von Jutta Fürst
Zusammenfassung
Der Begriff des Alterns wird aus psychodramatischer Sicht und allgemeinen Blickwinkeln beleuchtet. Kalendarisches und biologisches Alter, soziokulturelle und kulturhistorische Einflüsse, sowie rollentheoretische und soziometrische Perspektiven des Alterns werden zueinander in Beziehung gestellt und die Bedeutung von Spontaneität und Kreativität für das Alter herausgearbeitet.
Aus den Erkenntnissen werden schließlich schlussfolgernd Interventionsmöglichkeiten für das präventive und therapeutische Handeln abgeleitet.
Getting older – A Reflexion from a Psychodramatic Point of View
Abstract
Age and growing older are looked at from general and psychodramatic points of view. Biological, socio-cultural and cultural-historical influences were considered as well as socio- metric and role-theoretic aspects of aging. The impact of spontaneity and creativity on the well being of people getting older is investigated and brought into interrelation.
Finally, preventive and therapeutic interventions were deduced from the findings.
Einleitung
Ein kurzer Text zum Thema Älterwerden aus einem Buch, einer Sammlung von Zeitungskolumnen des Autors Daniel Glattauer (2004, S.66), soll den nachfolgenden Ausführungen als warm up dienen und ein kleiner Wegweiser durch den Artikel sein.
Alterserscheinungen
Woran erkennt man, dass man nicht mehr so jung ist wie früher? – Zum Beispiel daran, dass man (sich) diese Frage in immer kürzeren Intervallen stellt.
Unlängst standen wir –vier Sechziger-Jahrgänge- an der Theke einer angemessen jugendlichen Bar. War gar nicht leicht zu finden, Gäste und Personal rutschen ja immer mehr ins Vorschulalter ab. (Auch daran erkennt man es, zum Beispiel.)
D. erzählt uns, dass er nie mehr ohne seinen Kopfpolster auf Reisen gehe. Es gäbe nämlich weltweit nur diese einzige schlafverträgliche Mischung aus weich, tief, rund und daunig.
R. berichtete, dass ihm unlängst in der Straßenbahn eine Schülerin ihren Sitzplatz überlassen wollte…
…..Und ich erzählte, dass ich mit fünfzehn mächtig stolz war, als man mir beim Frisör (damals noch Friseur) erstmals einen Kaffee anbot. Na ja, jüngst fragte mich eine junge Frisöse: „Kaffee?“ Ich: „Ja, gern.“ Sie: „Koffeinfrei?“ Da spürte ich einen Stich im Herzen.
Der erste Teil dieses Textes bezieht sich darauf, dass Menschen dazu tendieren, sich in Relation zu anderen zu setzen, auch im Hinblick auf das Kriterium Alter. Dieses Thema wird am Beginn des Artikels beleuchtet.
Der folgende Absatz im oben stehenden „Warm-up-Text“ wirft einen Blick auf die psychosomatischen Rollen und die biologischen Veränderungen, denen auch in der folgenden Reflexion ein Abschnitt gewidmet ist.
Der Einfluss von Rollenerwartungen auf das subjektive Erleben des eigenen Alters wird im dritten Absatz des Eingangstextes beschrieben. Eine ausführliche Analyse dazu folgt im Anschluss an die Betrachtung der soziokulturellen Dimension des Älterwerdens.
Der Begriff Altern ist in unserer Kultur mit Ängsten verbunden, die sich vorwiegend auf die Reduktion von Lebensqualität und die Endlichkeit des Daseins beziehen. Die Frage, ob wir mit geringerer körperlicher Kraft und schwindender Attraktivität, sowie dem zunehmenden Verlust relevanter Beziehungen und der Einschränkung an Möglichkeiten umgehen können, beschäftigt uns in unterschiedlicher Art und Weise. Manche versuchen mit Hilfe verschiedenster Mittel die sichtbaren Zeichen des Alterungsprozesses zu verbergen. Einige probieren diese ungeliebte Entwicklung durch gezieltes Training und den Einsatz künstlicher oder natürlicher Mittel hinauszuzögern, während andere ihr fatalistisch gegenüberstehen. Nicht selten werden alle drei Varianten hintereinander oder gleichzeitig angewandt.
Wann beginnt man alt zu sein, sich alt zu fühlen, als alt betrachtet zu werden? Empfinden wir, dass wir altern und ab welchem Zeitpunkt tun wir das? Ist älter werden etwas anderes als altern?
Befragt man Menschen zu letztgenannter Frage, so antworten sie mit überdurchschnittlicher Häufigkeit, dass älter werden, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt – meistens bis zum Ende der Adoleszenz- durchwegs erwünscht ist und erst ab einem unterschiedlich definierten Augenblick, als unangenehm empfunden wird, während das Altern selbst ein durchwegs negativ besetzter Begriff ist. Er ist eng mit physischer Schwäche, eingeschränkter Lebensqualität und mangelnder Attraktivität verbunden.
Das Alter drückt in jedem Fall eine Beziehung, eine Relation aus, egal aus welcher Perspektive man es betrachtet. Morenos These, dass der Mensch nicht als Individuum sondern nur in seiner Beziehung zu anderen verstehbar ist und nur in diesen Beziehungen existiert, kann auch auf das Alter übertragen werden. Alter per se gibt es nicht. Es steht immer in Relation zu einem Kalendersystem (kalendarisches Alter), zu einer medizinischen Norm (biologisches Alter), zu einer Kultur (soziokulturelles Alter) oder zu Menschen und Situationen (subjektiv erlebtes Alter). Wer hat noch nicht Sätze gehört, wie: “Ich fühle mich wie neugeboren“ nach einem erfrischenden Bad oder: „Ich fühle mich wie 17“, wenn jemand sich gerade tollkühn in ein Abenteuer stürzt oder: „ Ich fühle mich, als wäre ich hundert“, nachdem jemand von schweren Schicksalsschlägen getroffen wurde?
Das subjektiv erlebte Alter steht oft im Widerspruch zum kalendarischen und biologischen. Altern, ist gewissermaßen eine Einbahnentwicklung von einem früheren Stadium zu einem späteren, ohne dass mit dem Begriff eine Wertung verbunden wäre. Man kann als Mensch sprachlich und auch biologisch nur altern und nicht jüngern. Die Forschung ist allerdings bereits auf dem Weg das zu ändern. Es gibt eine Quallenart, die sich ab einem gewissen Zeitpunkt wieder in eine Jugendform zurückentwickeln kann. In ferner Zukunft wird dem Menschen möglicherweise auch dieser umgekehrte Prozess zur Verfügung stehen. Bis dahin widmen wir uns dem Altern.
Das Lebensalter oder kalendarische Alter
Der Kalender bzw. unsere Zeitrechnung ist ein Ordnungssystem, das unser Leben strukturiert. Es ist gewissermaßen eine gesellschaftliche Vereinbarung, eine Gruppenübereinkunft, ob wir unser Leben nach Monden zählen, nach Jahreszeiten oder einem anderen System. Wir freuen uns darauf, ein bestimmtes Alter zu erreichen, weil uns dann bestimmte Möglichkeiten eröffnet werden, z.B. den Führerschein zu bekommen oder volljährig zu werden. Manche wollen aber auch nicht wahrhaben 30, 40 oder 50 zu sein oder fiebern darauf hin, 65 zu werden, um dann in Pension gehen zu können. Das Erreichen eines bestimmten Lebensalters kann intensive Gefühle auslösen wie Angst, Euphorie, Trauer oder Enttäuschung.
Ich erinnere mich noch bildhaft an eine Szene in meiner Ausbildungsgruppe. Wir saßen gerade im Kreis, als unser Lehrtherapeut uns einige theoretische Grundlagen vermitteln wollte. Strebsam wie ich war, wollte ich nichts vergessen und begann zu jammern, dass ich mein Schreibzeug vergessen hätte. Er sprang auf und auf mich zu, kniete vor meinen Platz nieder und fragte mich wie alt ich sei, dass ich Angst hätte zu vergessen und mir alles aufschreiben müsse. Ich war völlig verblüfft und stotterte: „70“.
Die wenigen Beschreibungen, wie „Vergesslichkeit“ und „alles aufschreiben müssen“, lösten in ein paar Sekunden meine Rollenkonserve einer alten Frau aus. So ist das kalendarische Alter nicht nur eine Maßeinheit für bereits gelebte Jahre, sondern auch der Auslöser für eine Rollenübernahme.
Meine Mutter, die demnächst ihren 87. Geburtstag feiert, fragte mich kürzlich beim Optiker, der ihr eine schicke Brille zum Probieren anbot: „Kann ich in meinem Alter noch so eine tragen?“ Die gesellschaftliche Übereinkunft, welche Rollen man mit einem bestimmten Lebensalter zu spielen hat, bzw. die persönliche Annahme darüber, beeinflusst das Verhalten.
Die mit dem kalendarischen Alter verbundenen gesellschaftlich definierten Verhaltensweisen nehmen Einfluss auf die Rollengestaltung.
Stellen wir uns einen Menschen vor, der fernab aller Zivilisation lebt und dessen Leben durch Sonnenaufgang und -untergang und Ereignissen des Alltäglichen bestimmt werden. Er oder sie wird sich an Szenen und Situationen erinnern und wahrnehmen, wie er bzw. sie sich im Augenblick fühlt. Sein oder ihr Erleben des Alters wird nicht definiert durch Zahlen und Daten, sondern durch phänomenologische Aspekte. Im Gegensatz dazu wird unser Leben in der Zivilisation mitbeeinflusst durch die Bedeutung, die wir diesen Zeitstrukturen geben.
Das Alter, abseits des kalendarischen, verändert sich mit dem Blickwinkel, aus dem es betrachtet wird. Dabei spielen biologische, soziokulturelle, historische, philosophische, interpersonelle und interaktionelle Faktoren eine Rolle.
Moreno hat immer wieder postuliert, dass Leben im Moment, in der Begegnung mit einem anderen Menschen passiert. Da die Wahrnehmung des eigenen Alters nur in Bezug zu Vergangenem und Zukünftigem gesehen werden kann, schließt der Moment eine Alterswahrnehmung logisch konsequent aus.
Im momentanen Erleben existiert die Dimension des Alters nicht.
Das Altern aus biologischer Sicht und der Einfluss psychosomatischer Rollen
Die psychosomatischen Rollen, also jene Rollen, ohne die der Lebensvollzug nicht möglich wäre, vermitteln eine Alterswahrnehmung, indem die zur Verfügung stehenden Funktionen in Relation zu bereits erworbenen und an anderen wahrgenommenen gestellt werden. Neu hinzugewonnene Aktionsvarianten, wie z.B. aufrecht gehen zu können anstelle zu krabbeln, lassen uns älter oder entwickelter erscheinen. Ebenso wie zu einem späteren Zeitpunkt der Verlust einer Fähigkeit, wie z.B. nicht mehr laufen zu können, das Gefühl vermittelt, alt zu sein. So können auch psychosomatische Rollen, die durch Krankheit (auch vorübergehend) verloren wurden, als Alterungsprozess erlebt werden.
Auf den ersten Blick scheint das Wort altern vom lateinischen „alter“ zu kommen, also „der andere“. Tatsächlich wird es vom indogermanischen Wort „aldra“, das wachsen und nähren bedeutet, abgeleitet. Bis zu einem bestimmten Lebensalter ist älter werden tatsächlich mit Zunahme und Wachstum verbunden. Körperlänge, Intelligenz, Kraft, Ausdauer nehmen zu.
Zu unterschiedlichen Zeitpunkten nimmt die Ausprägung bestimmter Parameter wieder ab. Den Verlust mancher Funktionen nehmen wir in unserer technisierten Welt oft erst verzögert war. Stellen wir uns noch einmal jenen Menschen vor, der fernab der Zivilisation im tropischen Urwald lebt und sich von dem ernährt, was er sich erjagt oder an Früchten und Pflanzen im Wald vorfindet. Nennen wir ihn Acaua. Er ist 37 Jahre alt und lebt gemeinsam mit seiner Frau Aipe und 5 Kindern in einem kleinen Dorf. [2]
Da bereits ab dem 35. Lebensjahr ein erhöhter Lichtbedarf für das Sehen notwendig ist und die Reaktionsgeschwindigkeit mit 20 Jahren abnimmt, fällt Acaua die Jagd bereits schwer und sie ist nicht mehr sehr ertragreich. Seine Sprungkraft wurde seit dem 24. Lebensjahr weniger und seine Hörleistung ist, seit er 32 ist, immer geringer geworden. Daher erhöht sich für ihn das Risiko einem Angreifer zum Opfer zu fallen. Seine Muskelkraft reduzierte sich ab dem Alter von 30 Jahren und er kann bald nicht mehr alleine die schwere Arbeit verrichten. Seine Frau Aipe ist jetzt 34 und deren jüngstes Kind 18 Jahre. Die fruchtbarste Zeit ist lange vorbei und beide spüren, dass sie den Anforderungen kaum mehr gewachsen sind. Ohne ihr Lebensalter selbst benennen zu können, geben ihnen die psychosomatischen Rollen und deren Beziehung zum erreichenden Ziel deutliche Informationen über den Alterungsprozess.
In unserem Kulturkreis nehmen wir die Auswirkungen biologischer Veränderungen in geringerem Maße wahr. Chemische und technische Hilfsmittel schwächen die Folgen ab.
Das biologische Alter wird durch medizinischen Parameter bestimmt.
Das Altern aus soziokultureller Sicht
Die Zeitspanne, in der Menschen als alt oder älter bezeichnet werden, ist neben den biologischen Kriterien auch kulturell bestimmt. So wird eine soziale Gemeinschaft, die sich vorwiegend über ihre Nachkommen definiert, die Fertilität als Kriterium für Alter heranziehen. Ist eine Frau in der Menopause, also zwischen dem 45 und 50. Lebensjahr, wird sie als alt bezeichnet werden. In einer Kultur, in der die körperliche Stärke, Kraft und Reaktionsgeschwindigkeit z.B. für kriegerische Auseinandersetzungen zählt, wie bei manchen antiken Völkern, wird jemand mit 30 Jahren als alt angesehen, weil in diesem Alter die relevanten Leistungen bereits schwinden. Würde sich eine Sozietät maßgeblich über Sprache und ganzheitliches Denken definieren, so wäre jemand mit 50 noch jung. In der westlichen Zivilisation ist die Erwerbstätigkeit zur wichtigsten Variablen geworden. Aus diesem Grund scheinen sich alle Definitionen zum Alter rund um das Pensionsalter zu bewegen.
Es geht aus Morenos Publikationen meines Wissens nicht hervor, wie er sich selbst aus soziokulturellem Standpunkt eingeordnet hat. Ich vermute, dass er diesen Aspekt vielleicht wahrgenommen, aber nicht gesondert reflektiert hat. Zu seiner Zeit, besonders in Amerika galt noch das Motto der unbegrenzten Möglichkeiten, die auch durch das Alter nicht eingeschränkt wurden. Solange jemand Ideen kreierte, war er/sie wohl Teil des American Dream. Demzufolge wurden als alt wohl nur diejenigen wahrgenommen, die keine kreativen Beiträge mehr leisten konnten.
Das zugeschriebene Alter wird von den Bedürfnissen und damit der Definition einer sozialen Gruppe mitbestimmt.
Das Alter aus kulturhistorischer Sicht
Verschiedene Völker haben die Bedeutung und die Probleme des Alterns und den Umgang damit in deren Mythen dargestellt. Die Vorfahren übermittelten damit unter anderem auch deren symbolisiertes Verständnis über Alterungsprozess und Sterben. Der Glaube, dass Tod und Altern erst durch ein Fehlverhalten verursacht worden sind, existiert in vielen Kulturen.
Unsterblichkeit und ewige Jugend sind durchwegs Gott oder den Göttern und Göttinnen vorbehalten. In der griechischen Mythologie z.B., wird den Menschen durch Prometheus das Feuer und damit etwas Göttliches geschenkt. Der Frevel dieser unerlaubten Weitergabe wird bestraft. Mit Pandora und deren Büchse kommen Unheil, Leiden, Krankheit und Tod über die Menschen. Im Alten Testament handeln sich Adam und Eva durch ihre Begierde nach Erkenntnis die Vertreibung aus dem Paradies ein, was ebenfalls den Verlust der Unsterblichkeit bedeutet und Krankheit und Altern mit einschließt.
In den Überlieferungen der Modoc Indianer (Nordkalifornien) kommt das Alter in die Welt, weil fünf gewalttätige Brüder auf der Suche nach einem Raufhändel ein greises Ehepaar verprügeln. Als sie merken dass sie es nicht töten können, fliehen sie, werden aber von dem Paar verfolgt. Nachdem sie die Burschen eingeholt haben, vergreist der erste der Brüder und stirbt. Ein Schicksal, das auch die anderen Brüder ereilt.
Die Geschichte scheint deutlich machen zu wollen, dass sich das Alter nicht aus der Welt schaffen lässt, indem man es bekämpfen will. Der Kampf gegen das Alter lässt jemanden erst alt aussehen und schließlich rascher sterben.
In der griechischen Mythologie gibt es die Geschichte von Endymion, dem König von Elis, der durch die Liebe der Mondgöttin Selene, vor dem Tod bewahrt wird, indem sie ihn in ewigen Schlaf versetzt. Jede Nacht kommt sie zu ihm und schenkt ihm damit auch ewige Jugend. Viele Dichter, unter anderem John Keats wurden davon inspiriert.
Hier eine modernere Interpretation in Form eines Songtextes von Sonata Arctica:
Dressed in the whitest silver you’d smile at me
Every night I wait for my sweet Selene
But still…
Solitude’s upon my skin
A Life that’s bound by the chains of reality
Would you let me be your Endymion?
I would
Bathe in your moonlight and slumber in peace
Enchanted by your kiss in forever sleep
Tithonos hingegen wurde von der Göttin der Morgenröte so geliebt, dass sie bei Zeus für ihn ewiges Leben erbat. Sie vergaß aber dabei ewige Jugend für ihn zu erbeten. Er schrumpfte im Laufe seines Lebens immer mehr und es blieb am Ende nur seine schrille Stimme, die ihn als Zikade enden ließ.
Bedeutet die Sehnsucht nach ewiger Jugend, dass man der Realität nicht ins Auge schauen will und träumt oder erlangt man sie, indem man liebt und geliebt wird? Oder wirken sich lebensverlängernde Maßnahmen derart aus, dass man von einem menschwürdigen Leben nicht mehr sprechen kann?
Wie Alter in verschiedenen Familien, sozialen Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften betrachtet wird und welches Rollenverhalten daraus abzuleiten ist, wird häufig durch Geschichten aber auch in Liedern tradiert und nicht immer bewusst wahrgenommen.
Die überlieferten Sichtweisen nehmen Einfluss darauf, wie Menschen den Alterungsprozess erleben.
Altern als ein zwischenmenschliches Phänomen
Eine kleine Szene soll veranschaulichen, wie wir von einem Augenblick zum anderen altern können.
Wir befinden uns in einer Beratungsstelle der Schulpsychologie. Die warme Nachmittagssonne kitzelt den achtjährigen Mario gerade an der Nase als er mich prüfend betrachtet. Auf meine Frage, wie alt denn seine Lehrerin sei, die, wie er bedauernd erzählt,, so gar keinen Spaß verstehe, spüre ich, wie er nach einem Vergleich sucht. „Scho’ ziemlich oit“, fasst er seinen Prüfbericht schließlich zusammen. Ich stelle mir in diesem Moment eine säuerlich wirkende Alte kurz vor der Pensionierung vor. Nach einer kurzen Pause setzt er fort: „ So ungefähr wie du“. Dieser Satz sitzt und bringt mich unmittelbar dazu, mich alt zu fühlen, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt gerade 28 bin.
Mit dieser kleinen Geschichte befinden wir uns schon mitten in der rollentheoretischen Erörterung des Phänomens Altern.
Betrachten wir diese Interaktion, indem wir die Rollen in die drei Kategorien psychosomatisch, psychodramatisch und soziodramatisch einteilen und die Gestaltungsvariablen role-taking, role-playing und role-creating mit berücksichtigen.
Wir haben hier zwei Interaktionspartner, die jeweils als role-giver and role-receiver fungieren, einen achtjährigen Grundschüler und eine 28-jährige Psychologin. Wir nehmen zuerst das Rollencluster „Grundschüler“ und ordnen diesem Attribute auf der psychosomatischen Rollenebene zu: unruhig sitzend, um sich schauend, schwitzend, … Mit der „28 jährigen Psychologin“ verfahren wir ähnlich: gelassen, ruhig sitzend, aufmerksam zuhörend…
Für die psychodramatische Rollenebene kann man weitere Attribute finden. Kind: fröhlich, frech, aufgeweckt, begabt …. Psychologin: kompetent, erfahren, humorvoll, interessiert …
Wirft man nun noch einen Blick auf die soziodramatische Rollenebene, so ergeben sich weitere Rollen. Die soziodramatischen Rollen schließen den sozialen Kontext mit ein. Kind: der Schüler, der erstgeborene Sohn einer Bauernfamilie, der Bruder einer dreijährigen Schwester,… Psychologin: Schulpsychologin, Kinderpsychotherapeutin, Beratungsstellenleiterin,…
Es gibt immer Rollen, die im Augenblick einer Interaktion nicht unmittelbar für die Beteiligten wirksam oder erlebbar sind. So ist Marios Rolle eines naturliebenden Forschers beispielsweise zwar im Gespräch erfahrbar, wird aber nicht durch Handlung sichtbar. Ebenso ist die Rolle der Beratungsstellenleiterin in dieser Situation nicht direkt wahrnehmbar.
Rollenerwartungen nehmen unmittelbar vom ersten Moment an Einfluss. Im Gespräch zwischen Mario und der Schulpsychologin wird die Rollenerwartung auch durch das Setting mitgestaltet. Beide sitzen einander in einem Beratungsraum auf Stühlen gegenüber, in dem sich auch ein Schreibtisch, Computer und Telefon befinden.
Hätte das Gespräch am Boden des Therapieraumes während eines Spiels stattgefunden, hätte sich möglicherweise die anfängliche Rollenerwartung, es mit einer alten Frau zu tun zu haben, verändert. Es wäre Mario möglich gewesen, andere Rollen wahrzunehmen und damit seine Rollenerwartungen zu verändern.
Die Rollengestaltung, also das role-creating, wird durch die Rollenerwartung des Gegenübers eingeschränkt und bedarf eines bewussten Aktes, um dieser entgegenzusteuern. In diesem Fall würde das bedeuten, dass die Schulpsychologin andere Rollen deutlicher zeigen müsste. Die Psychologin vermittelt Mario aber in dieser Interaktion verstärkt jene Rollen, die seinen Erwartungen entsprechen. Role-giver und role-receiver stimmen in ihrem Bild überein. Umgekehrt widerspricht Marios Rollenerwartung an die Psychologin deren Selbstwahrnehmung im Hinblick auf die psychosomatische Rolle. Er sieht jemanden, der im Vergleich zu ihm unbeweglich, gesetzt, ernst ist, jemand der alt ist.
Die Rollenerwartung lässt die Psychologin in die Rolle „der Alten“ kippen, ohne dass sich irgendetwas an den äußeren Bedingungen geändert hat. Sie hat der Rollenerwartung des Kindes zwar unbewusst entsprochen (Büro-, bzw. Beratungsgesprächsituation), aber deren Bedeutung nicht bewusst wahrgenommen. Aus diesem Grund trifft sie die Aussage des Kindes unerwartet.
Würden wir uns zu dieser Szene noch einen Großvater vorstellen, der den achtjährigen Mario in die Beratungsstelle begleitet und der die Psychologin als junges Küken betrachtet, das nichts vom Leben weiß, aber ihm als sportlich jung erscheint, wird deutlich, wie von Augenblick zu Augenblick das persönlich erlebte Alter auf den verschiedenen Rollenebenen unterschiedlich erlebt und in Handlung umgesetzt wird.
Die subjektive Wahrnehmung des Alters wird durch Rollenzuschreibung und Kontext innerhalb einer Interaktion beeinflusst.
Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Empfinden, das Ausgangspunkt für die Gestaltung der Rolle ist (role-creating oder role-making), und der Rollenerwartung (role- taking) führt zuerst zu einer Irritation und später zu einer Justierung des eigenen Verhaltens.
Man könnte diesen Prozess der Einstellungs- und Verhaltensanpassung in Anlehnung an die Theorie Festingers zur kognitiven Dissonanz (Festinger 1957) folgendermaßen erklären. Sie geht von der Annahme aus, dass Einstellungen und Erfahrungen, die zueinander im Widerspruch stehen, beim Menschen Spannungen auslösen, die dieser bestrebt ist, zu reduzieren. Kognitive Dissonanz ist demnach der Zustand, den jemand erlebt, wenn Erfahrungen und Einstellungen im Widerspruch zu aufgenommenen Informationen stehen.
Festinger konnte nachweisen, dass konsonante Kognitionen, also Gedanken, die einander nicht widersprechen, eher ins Bewusstsein gelangen, als dissonante (im Sinne seiner „Seeking-and-Avoiding-Hypothese“).
Besteht also eine starke Diskrepanz zwischen der eigenen Rollenwahrnehmung („ich bin jung, lustig, attraktiv, kompetent….“) und der Rollenerwartung des Interaktionspartners („du bist alt, unbeweglich, ernst…“) kann im Hinblick auf die Theorie angenommen werden, dass die betroffene Person bestrebt ist, diesen Unterschied zu verringern. Eine Diskrepanzreduktion kann erreicht werden,
- indem von den jeweiligen InteraktionspartnerInnen die Rollenerwartungen nicht wahrgenommen werden (Die Psychologin fühlt sich nicht alt, weil sie die Rollenerwartungen des Kindes nicht wahrnimmt)
- indem der Rollenerwartung voll entsprochen wird (ich fühle mich alt unbeweglich, ernst und verhalte mich demgemäß) und die ursprüngliche Selbstwahrnehmung („ich bin jung, lustig, attraktiv, kompetent….“) verleugnet wird
- indem der Interaktionspartner bzw. die Interaktionspartnerin abgewertet wird. (Bezogen auf das Beispiel würde das bedeuten, dass die Psychologin den Schüler als schlechter begabt einschätzt, weil er ihrer Ansicht nach offensichtlich nicht ausreichend differenziert wahrnimmt und damit seine Rollenerwartung zurückweisen kann.)
Oder jemand versucht, im Spannungsfeld zwischen Rollenerwartung undRollengestaltung eine neue Lösung zu kreieren.
Inwieweit das Verhalten geändert und damit eine Adaptierung der Rolle stattfindet, hängt von der Toleranzschwelle des Individuums in Bezug auf die bestehende Spannung ab.
Das subjektiv erlebte eigene Alter ist die Resultante aus Rollengestaltung (role-creating) und übernommener Rollenerwartung (role-taking).
Gelingt es, sich der Rollenerwartung bewusst zu werden und im Bedarfsfall entgegenzusteuern, kann das subjektiv erlebte Alter bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmt werden. Dem role-creating würde gegenüber dem role-taking ein größerer Raum eingeräumt werden.
«Ich habe immer geglaubt, mit achtzig wäre man sehr alt, aber jetzt bin ich anderer Ansicht. Es gibt Zeiten, in denen ich mich wie ein Junge fühle. Solange man imstande ist, zu bewundern und zu lieben, so lange ist man jung. Und es gibt so viel zu bewundern und zu lieben.» Pablo Casals zugeschrieben
Altern aus der Sicht der Rollenentwicklung
Schacht (2003, 46ff) beschreibt die Rollenentwicklung bis in die späte Adoleszenz. Auch wenn die verschiedenen Rollenentwicklungsebenen Altersbereichen zugeordnet sind, sind diese doch abhängig von den Lebensumständen und der allgemeinen Entwicklung eines Menschen. Das bedeutet, dass bestimmte Rollenentwicklungsschritte von manchen Menschen erst später oder überhaupt nie vollzogen werden.
Die Rollenentwicklung nach der Adoleszenz soll durch folgendes Beispiel veranschaulicht werden.
Daniela (42) stellt im Rahmen einer Psychodrama-Therapiegruppe ihr soziales Atom (jene Menschen zu denen Daniela im Augenblick eine emotionale Beziehung unterhält) mit Hilfe von Gruppenmitgliedern auf die Bühne, um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum sie in diesem System immer mehr an Energie verliert und sich wie zerrissen fühlt.
Sie beschreibt die Beziehung zu ihren Kindern als gegenseitig wertschätzend und gut. Die Freundin wird als Stütze beschrieben. Sie selbst ist der Freundin aber auch eine gute Zuhörerin. Das Verhältnis zum Vater ist sehr belastet durch seine ständigen Alkoholexzesse, die sie seit ihrer Kindheit miterlebt hat. Gewalt und Szenen, in denen Ekel dominierten, kommen ihr in den Sinn.
Sie wechselt im Zuge der Inszenierung problemlos in die Rollen ihrer Kinder und ihrer Freundin. Erst beim Wechsel in die Rolle des Vaters scheint plötzlich keine Einfühlung mehr möglich zu sein. Sie übernimmt die Rolle auf der psychosomatischen Ebene, d.h. sie übernimmt die Haltung und Gestik des Vaters, spricht aber nur noch in der dritten Person über ihn und übernimmt die Rolle auch nach Einsatz anderer psychodramatischer Techniken wie Doppeln und Interview nur in Momenten.
Daniela war es in dieser Inszenierung möglich, einen Rollentausch mit den RepräsentantInnen ihrer Familienmitglieder zu vollziehen. Das bedeutet eine gelungene Perspektivenübernahme auf Niveau 2, einer Entwicklungsstufe, die man üblicherweise im späten Jugendalter erreicht (Schacht 2003, S. 200). Auf dieser Stufe ist es der Protagonistin möglich, sich selbst mit den Augen des Gegenübers zu sehen und darum zu wissen, dass dies auch dem bzw. der anderen möglich ist.
Nur in Bezug auf ihren Vater gelang ihr der Perspektivenwechsel nicht einmal auf dem Niveau 1, auf dem sie fähig sein müsste, sich in die Rolle des anderen zu versetzen, auch wenn im Konfliktfall noch die eigenen Bedürfnisse die Sichtweise bestimmen. Das Alter Danielas in Bezug auf ihre Rollenentwicklung müsste demgemäß als inkonsistent gesehen werden.
Das bedeutet, dass die Erreichung eines Rollenentwicklungsniveaus davon abhängig sein kann, ob die durch die Perspektivenübernahme ausgelösten Gefühle für die Protagonistin er- oder verträglich sind.
Welchen Einfluss hat das Lebensalter auf die Rollenentwicklung? Welche Erfahrungen begünstigen im Laufe eines Lebens Rollenentwicklungen und welche schränken diese ein?
Verhofstadt Denève (2000, S. 58) erläutert in ihrem phänomenologisch- entwicklungstheoretischen Ansatz, dass die weitere Entwicklung von der Toleranzfähigkeit des Individuums abhängt, innere Spannungen auszuhalten und deren Pole zu einer Integration zu bringen.
Im konkreten Fall stehen jene Rollenanteile, die Daniela mit ihrem Vater verbindet, in krassem Gegensatz zu jenen, die Daniela wertschätzt. Im Rollentausch müsste Daniela die depressiven und aggressiven Gefühle, die sie mit der Rollenübernahme erlebt, als Teil ihrer selbst erfahren. Diese negativ besetzten Rollenteile als Teile ihrer selbst zu erkennen und zuzulassen, würde aber eine zu große Spannung verursachen, weshalb sie vermeidet, die Rolle des Vaters zu übernehmen, um diese Spannung nicht zu erleben.
Auch wenn man mitberücksichtigt, dass Daniela, die zweifellos traumatisierenden Erlebnisse mit ihrem Vater in der Kindheit, unbewusst dazu veranlassen, sich nicht mit dem Täter zu identifizieren, um sich nicht den entstehenden Gefühlskonflikten auszusetzen, kann daraus geschlossen werden, dass bestimmte Erfahrungen möglicherweise eine homogene Rollenentwicklung verhindern.
Zum Zeitpunkt als Daniela ihr soziales Atom erkundete, war die Beziehung zu ihrem Vater noch unbearbeitet und die fehlende Rollenübernahme stand im Dienste ihres psychischen Wohlbefindens.
Was befähigt einen Menschen, diese Toleranz gegenüber inneren Spannungen zu entwickeln? Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass diese Toleranz mit einem bestimmten Maß an Selbstwertgefühl einhergeht, welches durch das Erleben, in seiner Gesamtheit geliebt zu werden, entwickelt wird. Dies wird gestützt durch Ergebnisse aus der Bindungsforschung. Verhofstadt-Denève (2000, S. 201) streicht ebenfalls die Bedeutung der „evaluation through others“ in der frühen Kindheit bei der Entwicklung des Selbstwertgefühles heraus.
Erfährt ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung Wertschätzung, durch für ihn oder sie bedeutende Bezugspersonen und kann er oder sie diese positive Selbstevaluation integrieren, so wird sich seine bzw. ihre Toleranzbreite gegenüber inneren Spannungen erhöhen. Ein Gefühl, dass sich fremd anfühlt oder im Widerspruch zu anderen Emotionen steht, verunsichert einen Menschen mit einem stabilen Selbstwertgefühl nicht in seinen Grundfesten. Das Ertragen der inneren Spannung und die Auseinandersetzung damit, ermöglicht Entwicklung. Eine neue Rolle muss nicht abgelehnt werden, sondern kann gewissermaßen einverleibt, als eigen erkannt und dem Rollenrepertoire hinzugefügt werden.
Ist das Selbstwertgefühl gering, bleibt auch die Toleranz gegenüber dem Spannungszustand, den neue Rollen erzeugen, niedrig. Traumatische Erlebnisse führen auch immer zu einer Verringerung des Selbstwertgefühls. Unter diesen Voraussetzungen wird sich das Rollenrepertoire nicht erweitern. Es kann damit auch kein höheres Rollenniveau erreicht werden. Ein höheres Rolleniveau ist demzufolge eine Entwicklungsleistung, die von verschiedenen Faktoren abhängt. Das Leben an sich bietet täglich ein Lernfeld. Je älter der Mensch wird, desto mehr Interaktionen und Situationen ist er ausgesetzt, wo er auf Neues reagieren muss. Die Lebensumstände bieten unterschiedlich viel Anregung und Möglichkeit dafür. Das vorhandene Selbstwertgefühl entscheidet darüber, wie viel Spannung erträglich ist.
Das Entwicklungsalter aus rollentheoretischer Sicht drückt die Erreichung eines bestimmten Maßes an sozialer Kompetenz aus
In diesem Falle bedeutet wohl jung zu sein, sich noch nicht alle Möglichkeiten des Menschseins erschlossen zu haben, auch wenn im Grunde die Entwicklung nie abgeschlossen sein wird, da es immer Rollen geben wird, die unsere Spannungstoleranz überschreiten. Manche Rollen widersprechen unseren Wertvorstellungen in einem Maße, dass wir sie nicht in Einklang bringen können. Die dadurch erzeugte Spannung ist zu groß. Die Rolle wird als fremd wahrgenommen, erschließt sich nicht. Ein Verstehen wird unmöglich. Entwicklung kann demgemäß nur eine Annäherung sein, ein stetiger Versuch, neue Rollen zu integrieren.
Mit zunehmendem Lebensalter müsste sich theoretisch das Rolleninventar, also die Summe aller Rollen, die je gespielt wurden, vergrößern, während das Rollenrepertoire, die Anzahl der in einem Moment spielbaren Rollen, nicht unbedingt wächst, da möglicherweise die geeigneten Interaktionspartner fehlen.
Körperliche Immobilität, Einschränkungen im Bereich der Wahrnehmung und des Denkens, sowie Krankheiten können die Aufrechterhaltung von Beziehungen unabhängig von der sozialen Kompetenz maßgeblich einschränken oder auch verhindern. Das gilt auch für die Rollenflexibilität.
Altern aus soziometrischer Sicht
Jede Beziehung ermöglicht uns, neue Rollen zu entwickeln und damit auch unser Rollenatom zu erweitern. Beziehungen, die verloren gehen und nicht ersetzt werden, verringern automatisch die Möglichkeit diese Rollen, die mit diesen Beziehungen verbunden sind, zum Ausdruck zu bringen. Sie bleiben zwar weiterhin in unserem Rolleninventar, also als potentielle Möglichkeit vorhanden, werden aber in der aktuellen Situation mangels eines geeigneten Interaktionspartners oder einer Interaktionspartnerin nicht gelebt.
Moreno (1947, S.81f) führt drei Gründe für den Verlust des Zusammenhaltes des individuellen sozialen Atoms an,
- den Verlust von Gefühl,
- eine Person wird durch jemanden ersetzt, der weniger gut die Rolle erfüllt oder
- Tod.
Dazu Beispiele aus der Praxis:
1. Verlust von Gefühlen:
Helga ist gelernte Schneiderin und jetzt 67. Sie ist seit 45 Jahren verheiratet. Ihr Ehemann, der seit kurzem in Pension ist, war früher Förster. Die fünf gemeinsamen Kinder sind alle bereits erwachsen und leben ihr eigenes Leben. Seit einigen Jahren hat Helga starke Schmerzen im Rücken sowie Herzrhythmusstörungen. Sie hat sich aus diesem Grund auch bereits einige Zähne entfernen lassen in der Annahme, diese seien dafür verantwortlich. Aber auch Unterleibsschmerzen machen ihr zu schaffen. Sie hat ihren Mann geliebt und geachtet, nun kann sie ihn aber kaum mehr ertragen. Er vernachlässigt sich sehr stark und ist durch nichts zu bewegen, sich mehr zu pflegen. Er ist ihr körperlich zuwider geworden und jede Kontaktaufnahme seinerseits löst Ekel in ihr aus. Dabei bemüht er sich sehr, ihr im Haushalt zu helfen und sie zu verwöhnen. Ihr Partner hat im Gegensatz zu ihr keinerlei Interessen. Er liest nicht und reist nicht gerne. Das sind alles Beschäftigungen, die sie selbst begeistern. Am meisten vermisst sie aber eine Umarmung.
Helga fühlte sich am Beginn ihrer Ehe zu ihrem Mann durchaus hingezogen. Er bot ihr Sicherheit und Stärke und der Familie jenen Rahmen, den die Klientin selbst in ihrer Kindheit vermisste. Er versuchte, sie auch nach Kräften zu unterstützen. Die fehlende Zärtlichkeit und anderes wurden von ihr damals nicht bemerkt. Jetzt, nachdem sich die Rollen verändert haben, wird Helga deutlich, was sie vermisst. Sie kann jene Gefühle, die sie am Beginn für ihren Ehemann entwickelt hatte, nicht mehr empfinden. Die Rolle der Liebenden und Geliebten ist für sie mit diesem Partner durch den Verlust der Gefühle für ihn nicht mehr lebbar. Sie übernimmt für ihn die Rolle der Versorgenden, einen Teil ihrer mütterlichen Rolle.
Das Rollenatom von Helga verkleinert sich demzufolge, wenn sie niemanden findet, der die vakante Rolle ausfüllt.
2. Eine Person wird durch jemanden ersetzt, der weniger gut die Rolle erfüllt:
Hannas Ehemann stirbt mit 32 Jahren bei einem Bergunfall. Sie hat zwei Kinder im Alter von 3 und 5 Jahren. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes Schwierigkeiten, sich finanziell über Wasser zu halten. Nun da die ökonomischen Probleme gelöst sind, leidet sie verstärkt unter Schlaflosigkeit und depressiven Verstimmungen. Sie lernte einen sehr netten Mann in der Zwischenzeit kennen, erinnert sich aber immer noch an die tollen Feste, die sie mit ihrem verstorbenen Ehemann gefeiert hatte. Auch für die Rolle der Intellektuellen ist ihr neuer Partner kein geeigneter Gegenspieler. Er ist sehr naturverbunden und meidet eher Gesellschaften. Der Vergleich zwischen den beiden Männern lässt sie sehr sehnsüchtig wirken. Auch wenn sie nun ihre handwerklichen Fähigkeiten entdeckt hat (zwangsläufig, wie sie sagt) und damit eine Rolle ihres ehemaligen Partners übernommen hat, sind ihr viele Rollen abhanden gekommen, auch wenn ihr derzeitiger Partner äußerst liebevoll und liebenswert ist.
Einen Partner zu finden, der diese Rollenvielfalt in gleichem Maße ermöglichen würde, scheint nicht sehr wahrscheinlich. Nachdem alle nunmehr vakanten Rollen von Hanna definiert wurden, machte sie sich auf die Suche nach neuen Beziehungen, die ihr dabei helfen sollten, ihr Rollenatom zu vervollständigen. Sie trat einem sozial engagierten Frauenclub bei, der mehrmals jährlich Wohltätigkeitsbälle veranstaltete, wo sie wieder in die Rolle der Organisatorin schlüpfen, aber auch die bewunderte schöne Frau sein konnte. Sie begann ein Studium und konnte damit Menschen für den intellektuellen Austausch finden.
3. Tod:
Irene ist 25 als ihr 16 jähriger Bruder stirbt. Da ihre Mutter allein erziehend und berufstätig war, hat sie bereits sehr früh die Mutterrolle für ihn übernommen. Nach seinem Tod entwickelt sie eine starke depressive Symptomatik. Es ist nicht nur der Verlust des Bruders, der sie belastet, sondern auch die Leere, die sie durch den Verlust der Rolle erlebt.
Kurze Zeit nach Beendigung der Therapie übernimmt sie im Ausland die Rolle eines Kindermädchens und gewinnt damit ihre Rolle als Mutter wieder zurück. Darüber hinaus, gibt es aber noch weitere Gründe, die zum Verlust des Zusammenhaltes des sozialen Atoms führen können, die Moreno allerdings unerwähnt ließ. Die Angst vor Bestrafung kann jemanden daran hindern, eine Rolle zu übernehmen, die er oder sie gerne spielen würde, aber sich in Anbetracht der zu erwartenden Konsequenzen nicht traut. Auch die Befürchtung, eine geliebte Person zu verlieren, kann jemanden dazu bewegen, einer bestimmten Rolle in seinem oder ihren Leben keinen Platz mehr zu geben. Im folgenden Beispiel ist dies illustriert.
4. Angst vor Verlust und Bestrafung:
Marlen Haushofer, die berühmte österreichische Schriftstellerin, wird als wildes, eigenwilliges und nicht leicht erziehbares Kind beschrieben. Zwei einschneidende Erlebnisse verändern sie nachhaltig. Der Verlust ihres Hundes Schlankel, der von ihrem Vater, wegen eines Ungehorsams, erschossen wird, führt dem kleinen Mädchen vor Augen, was passiert, wenn man sich den Anordnungen des Vaters widersetzt. Der Eintritt als 10-jährige in ein sehr streng geführtes, katholisches Internat wird zum weiteren Markstein in ihrer Entwicklung. Der Verlust der Freiheit und der geliebten Menschen, die für sie in unerreichbare Ferne rücken, lassen sie nicht nur während des Aufenthalts im Internat zum braven Mädchen werden. Der Verlust adäquater Rollenpartner und die Angst vor Bestrafung führen zur Entwicklung einer angespannten, angepassten und gehorsamen Rolle, während die Aufmüpfige endgültig verloren ist. Zeit ihres Lebens trauern die Protagonistinnen ihrer Erzählungen der Kinderrolle nach.
Marlen Haushofer schreibt in „Himmel der nirgendwo endet“ (Strigl 2000, 276):
„Aber wehe, das kleine Mädchen fällt dir ein, jenes winzige aufsässige Geschöpf. Dann fällt sofort ein Hieb, ein Hieb ins Leere. Denn das kleine Mädchen gibt es nicht mehr. Versteh doch endlich. Es ist tot, an seiner eigenen Aufsässigkeit erstickt, vor Zorn zerplatzt wie Rumpelstilzchen, in der Fremde umgekommen, hat sich den Kopf eingeschlagen als es damit durch die Wand hat wollen. Es ist gestorben und tot, nicht einmal, sondern hundertmal. Du solltest mit Hochachtung und Respekt von ihm reden und nicht einer wildfremden erwachsenen Frau die Untaten dieses Kindes nachtragen.“
Moreno vermutete, dass diese Verluste, die wir in unserem sozialen Atom erleben, den Schatten des Todes vorauswerfen und in einigen Fällen zu frühzeitiger Alterung, Alterskrankheit und physischem Tod führen, wenn wir nicht im Stande sind, die entstehenden Verluste zu ersetzen. Er bezeichnete den Zustand nach einem Verlust eines Menschen aus dem sozialen Atom als „social death shock“. Der Tod eines Menschen steht nach seiner Sicht in Verbindung mit dem Tod vieler anderer.
Er (Moreno 1947, S. 82) betrachtete den physischen Tod als etwas Negatives, weil der physische Tod nicht selbst erfahrbar ist. Nur die Menschen, die Teil des jeweiligen sozialen Atoms sind, erleben den physischen Tod als Verlust. Dieser nimmt Einfluss auf deren Leben und auf das soziale Gefüge. Deshalb bezeichnet er den sozialen Tod als eine positive Kraft. Er wird bewusst erlebt und ist Teil des Lebens. Der Tod eines Menschen aus dem persönlichen sozialen Atom ist eine Erwärmung, eine Einstimmung für den eigenen Tod.
Nicht selten sterben Eheleute, die lange zusammen gelebt haben, kurze Zeit nacheinander. Das neue Leben ohne Partner ist nicht mehr ihr Leben. Es ist nicht nur eines Menschen beraubt, sondern auch der mit ihm verbundenen Rollen.
A man dies when his social atom dies. Physical and individual death are not the end of life, they can be viewed as functions of an older unit, of the socio-atomic processes in which they are both embedded. (Moreno 1947, S. 84)
Ab einem gewissen Zeitpunkt beginnt man die Todesanzeigen mit stärkerem Interesse durchzublättern und für manche sind es jene Seiten, denen ausschließlich Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ist jemand dabei, den man gekannt hat? Dieses Interesse darf nicht nur dahingehend gedeutet werden, dass man eine gewisse Befriedigung erfährt, andere zu überleben, es ist ein warm-up für den eigenen Tod, sieht man das Phänomen aus dem Blickwinkel des Psychodramas.
Wenn wir verschiedene Lebensgeschichten betrachten, so können wir Morenos Theorie, dass der Verlust von Rollenpartnern und der damit verbundene Verlust von Rollen zu einer Reduktion von Lebensqualität führen, nachvollziehen. Gelingt es dafür einen gleichwertigen Ersatz zu finden, der es zulässt die ursprüngliche Rolle wieder zu leben, führt dies auch zu einer subjektiv erlebten Verjüngung. Findet dieser Ersatz nicht statt, bedeutet dies im Sinne Morenos den sozialen Tod, also ein Vorantreiben des Alterungsprozesses.
Goethe formulierte folgendermaßen:
Älter werden heißt: selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen. (Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen 259)
Aus psychodramatischer Sicht müsste man ergänzen, dass es notwenig ist, nicht nur das neue Rollefach zu übernehmen, sondern darauf zu achten, Verluste von Rollenpartnern möglichst zu ersetzen, um wichtige Rollen nicht zu verlieren.
Frauen, die aufgrund der Erziehung ihrer Kinder den Beruf aufgeben, verlieren eine bedeutende Rolle in ihrem Leben, oft ohne Aussicht sie jemals wieder zurückzugewinnen. Sind die Kinder schließlich aus dem Haus, führt dies zum Verlust der zweiten wichtigen Rolle, der Rolle der Versorgenden und Erziehenden. Manchmal wird der Partner als Ersatz dafür genommen, um diese Rolle weiter zu leben. D.h., dass der Partner in die Rolle eines Kindes gebracht wird, das versorgt, bemuttert und bevormundet wird, was nicht selten zu Konflikten in der Partnerschaft führt, weil der Partner oft andere Erwartungen stellt, die nicht erfüllt werden. In dieser Situation entstehen häufig Symptome einer Depression.
Es muss das Ziel sein, jene Rollen, die ursprünglich Teil des Rollenatoms waren und im Laufe der Zeit verloren gegangen sind, durch entsprechende Beziehungspartner zu reaktivieren.
Meist sind wir uns dieser Suche nach eines Ersatzes nach einem Verlust nicht bewusst, manchmal wird bereits vor dem Verlust des anderen, wenn eine Trennung droht, eine Ersatzperson gewählt, die unmittelbar danach die vakante Rolle ersetzen kann.
In vielen Fällen gelingt es aber auch nicht, diese Menschen im eigenen Atom zu ersetzen und mit zunehmendem Lebensalter wird dies schwieriger.
The idea that love and spontaneity is for the young only, that old people should prepare themselves for death, is an antiquated cruelty. A new breath of hope should come to geriatrics, the science of old age, from the recognition that we do not live only within ourselves, but that there is a „without“ of the self which is highly structured, and responsive to growth and decay. (Moreno 1947, S. 82)
Wie kann ein langjähriger Freund mit seinen unterschiedlichsten Qualitäten, die eine Vielfalt von Rollen ermöglicht haben (Kartenspieler, guter Zuhörer, humorvoller Unterhalter, Tänzer, Berufskollege usw.) nach dessen Tod durch einen anderen ersetzt werden? Es bräuchte wohl mindesten fünf dazu, um die entstehende Lücke zu füllen. So wird es im besten Fall einen Menschen geben, der nachrückt und alle anderen Rollen, die der Verstorbene in seiner Präsenz ermöglicht hat, gehen verloren. Gelingt es aber, im Bewusstsein der erwarteten Verluste diese auszugleichen, kann der soziale Tod hinausgezögert werden.
Nach dem Tod ihres langjährigen Partners verliert die 67 jährige Marianne jegliches Interesse. Sie hatte in den letzten Jahren ihren Mann, der einen Schlaganfall erlitten hatte, gepflegt und betreut. Zeit ihres Lebens hatte sie die Mutterrolle übernommen. Zuerst für ihre eigene Mutter, die an einer Depression litt, später für ihren Mann, der selbst nie mütterliche Liebe in seiner Kindheit erfahren hatte, schließlich für ihre Kinder und am Ende wieder für ihren pflegebedürftigen Partner. Nun nach dem Tod des Ehemannes hat sie die wichtigste Bewältigungsrolle in ihrem Leben verloren.
Bald folgen Schlafstörungen und Suizidgedanken. Die Vorstellung und der Wunsch wieder mit ihrem Partner im Jenseits vereint zu sein, wird immer stärker.
In einer psychodramatischen Szene, in der sie einen Rollenwechsel mit ihrem Partner im Himmel vollzieht, antwortet sie in seiner Rolle auf die Frage, ob er noch gerne etwas auf Erden getan hätte, wozu ihm keine Gelegenheit mehr geblieben sei, dass er sich immer gewünscht hätte, in seiner Pension mit einem Hund spazieren zu gehen. Er würde das gerne noch wenigstens vom Himmel aus sehen.
Marianne holt sich wenig später gemeinsam mit ihrer Tochter einen kleinen Mischlingshund aus dem Tierheim, den sie liebevoll pflegt. Mit dem Tier gewinnt sie ihre versorgende, bemutternde Rolle wieder zurück, was zu einer erheblichen Verbesserung ihrer Symptomatik führt.
Aber auch der Verlust der Berufsrolle nach der Pensionierung führt bei Menschen, die nicht frühzeitig darauf reagieren und diese durch Handlungsvarianten, die ähnliche Kompetenzen und Verhaltensweisen verlangen, ersetzen können, zu einem Schock, den Moreno als „social death schock“ bezeichnet.
Je länger jemand sein soziales Atom konstant halten oder erweitern kann, desto lebendiger und jünger erlebt er bzw. sie sich.
Ausgehend von diesem Faktum stellt sich die Frage, was Menschen befähigt, ihr soziales Atom konstant zu halten und zu erweitern bzw. was eine Ergänzung verhindert und damit zu einem frühen sozialen Tod führt. Möglicherweise kann das Spontaneitäts- und Kreativitätskonzept Morenos einen Beitrag dazu leisten.
Altern aus der Sicht des Spontaneitäts- und Kreativitätskonzept
Spontaneität, jener Faktor, den Moreno als die Energie bezeichnete, die Kreativität zum Wirken bringt, wurde bisher im Hinblick auf die Altersvariable nicht untersucht. Entwickeln Menschen mit zunehmendem Alter mehr Spontaneität oder nimmt sie ab? Und wenn, warum?
Geht man davon aus, dass Kreativität auf divergentem Denken beruht und das Ergebnis einer Verknüpfung verschiedenster Elemente in neuer Ordnung darstellt, so kann man auf der Basis, dass ältere Mensche über einen größeren Schatz an Daten verfügen, davon ausgehen, dass im Alter kreativere Leistungen möglich sind, als in jungen Jahren, unter Einschluss der Annahme, dass die im Gehirn gespeicherten Daten noch zugänglich sind.
Um die Kreativität wirksam werden zu lassen, braucht es nach Moreno die Spontaneität, also jene Energie, die eine Reaktion nach entsprechendem warm-up initiiert. Spontaneität und Konserve befinden sich in einem ständigen Balanceakt, wie er es im „Canon of Creativity“ (1955, S. 103) beschreibt. So bilden sich mit zunehmendem Alter auch mehr Konserven bzw. Verhaltensweisen, die einem Automatismus unterworfen sind und nicht unbedingt mehr auf die jeweilige Situation angepasst werden. Spontaneität hängt nach Moreno von einer entsprechenden Erwärmung für die Situation ab, um in die Spontaneitätslage zu kommen.
Diese würden jemanden auch im hohen Alter befähigen, seine bzw. ihre in umfangreichem Maße vorhandene Kreativität für Lösung von Problemen einzusetzen. Um beim Verlust von Beziehungspersonen adäquat reagieren zu können und nicht dem social death schock anheim zu fallen, müssten Menschen auf Verluste vorbereitet sein und erwärmt werden, um die Verluste in einem kreativen Akt wieder ausgleichen zu können.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die Praxis
Morenos theoretische Überlegungen geben in Bezug auf den lebensimmanenten Prozess des Alterns Hinweise, welche Möglichkeiten offen stehen, um die Lebensqualität im Laufe der Jahre zu erhalten und zu verbessern. Aus der Analyse wurde sichtbar, wie wir in jedem Moment unserer Interaktionen unser subjektiv erlebtes Alter aufgrund unterschiedlicher Rollenerwartungen ändern. Mit der bewussten Wahrnehmung dieser Erwartungen und dem Ausloten des Handlungsspielraumes kann das subjektiv empfundene Alter wenigstens teilweise durch jeden selbst gesteuert werden.
Die Fähigkeit, mit anderen befriedigend zu interagieren, hängt davon ab, in welchem Maße es gelingt, einen inneren Rollenwechsel oder Rollentausch zu vollziehen. Um die damit verbundenen inneren Spannungen zu ertragen, muss ein ausreichendes Selbstwertgefühl entwickelt worden sein. Die psychodramatische Arbeitsweise bietet vielfältige Möglichkeiten diese Entwicklung voranzutreiben.
Der Verlust von Rollen durch den Verlust von InteraktionspartnerInnen lässt uns einen „sozialen Tod“ sterben, lange bevor wir den biologischen Tod erleiden. Wenn es gelingt das Rollenatom konstant zu halten oder zu erweitern und verlorengegangene Rollen durch die Hinzunahme neuer adäquater Interaktionspartner zu ersetzen, ist ein wichtiger Schritt getan. Moreno (1947 S.82) schreibt: „ Es ist einfacher und effektvoll das soziale Atom durch soziodramatische Arbeit wiederherzustellen, als körperliche und geistige Beschwerden zu heilen.“
Nicht zuletzt kann das Psychodrama durch seinen ganzheitlichen Ansatz dazu beitragen, dass Spontaneität und Kreativität geweckt und erhalten werden. Damit könnte auch der Zugang zu dem, mit zunehmendem Lebensalter und reicherer Erfahrung, vermehrt vorhandenem Datenmaterial, erhalten werden. Es gilt die Rolle des Regisseurs bzw. der Regisseurin des eigenen Lebens beizubehalten und zu entfalten.
Anmerkungen
[1] The Beatles: When I get older… (In the 90’)
[2] Die bei uns erhobenen, durchschnittlichen Daten für biologische Prozesse, die für dieses Beispiel herangezogen wurden, sind sicherlich nicht unmittelbar übertragbar, geben aber eine Vorstellung, welche Auswirkungen biologische Veränderungen im Zuge des Älterwerdens auf Menschen in einem natürlichen Umfeld haben.
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