Neutralität, Schuld und Arbeiten für den Frieden in Psychodrama und Gruppentherapie

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Zur Entwicklung friedensethischer Haltungen internationaler Gruppentherapieverbände angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine
Autor: Manfred Jannicke,  Februar 2023

Artikel auf russisch und ukrainisch:
Яаннике 2023 Нейтральность, чувство вины и работа на благо мира в психодраме и групповой терапии

Янніке 2023 Нейтралітет, почуття провини та робота для Миру у психодрамі та груповій терапії

Abstract

Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine greifen die bisherigen Reaktionsmuster der psychotherapeutischen Szene zur Konfliktbewältigung und Friedensarbeit zu kurz. Im Text wird der Versuch gewagt, den überbordenden russischen Hass auf alles Ukrainische historisch- ethisch zu erklären, inklusive eines Exkurses zur Verwendung der ukrainischen und der russischen Sprache in internationalen Treffen. Der Blick auf das Traumadreieck bietet weitere Einsichtsmöglichkeiten für den Prozess des peace building und der Anerkennung der Schuld, insbesondere mit Blick auf die Zielgruppen und Zwecke von Treffen sowie auf Setzungen wie die Wahl der Zeit und der Inhalte.
Moralische Abwägungen sind durchzuführen. Den Schluß bilden einige kritische Botschaften an FEPTO und IAGP.

Vorbemerkungen

Bald nach dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine wurden, vor allem in den internationalen Verbänden IAGP, FEPTO und PAfE Diskussionen über
Begegnungen zwischen Psychodramatiker:innen und anderen Gruppentherapeut:innen aus der Ukraine und solchen aus Russland begonnen. Viele ukrainische Kolleg:innen wiesen darauf hin, dass solche Begegnungen für sie unmöglich, eine Qual, sind, solange der völkerrechtswidrige Angriff der Russischen Föderation in vollem Umfang fortgeführt wird, mit aller Brutalität, unaussprechlichen Verbrechen und der erklärten Absicht, die Ukraine inkl. ihrer gesamten aktuellen und historischen Kultur „auszuradieren“ (WOLOCHNIUK 2022). Dennoch wurde von ihnen teilweise regelrecht die Aufrechterhaltung ukrainisch-russischer Begegnungen eingefordert. So zum Beispiel in einem Facebook Post, in dem als Ergebnis eines Workshops auf der IAGP Konferenz 2022 in Pescara der Eindruck zusammengefasst wird, dass „if the people in Ukraine and in Russia do not let split them, and keep the bond together, the power has no chance to … rule over them“ (ZURETTI 2022). Dies wird von den allermeisten Ukrainer:innen als zynisch, übergriffig, als falsch verstandene Solidarität und als Hereinfallen auf das imperiale russische Narrativ verstanden. Derlei „neutrale“ Positionen werden innerhalb von Verbänden wie IAGP, FEPTO, weniger in PAfE, vertreten (bzw. vermeiden diese klare Botschaften, die sich gegen den russischen Angriffskrieg richten). Andere Beispiele finden sich in einer internationalen Googlemail- Gruppe, in der auf Initiative des IAGP- Vorstands Fragen diskutiert werden wie: Wie definieren wir “Frieden”? oder Was können wir zur Herstellung von Frieden beitragen? Der größere Teil der Beiträge wird allen unter kriegerischen Akten leidenden mehr als sauer aufstoßen, hier einige Beispiele:

“Peace is accepting what ‘is’ right now, first and foremost inside oneself, and
thereafter inside others”.

  • “Peace is a calm nervous system and being that can see past fight flight ‚the other as a threat‘ and hold witness to the unique and similar soul struggles of a fellow human being.”
  • “Peace is being still.”
  • “Peace is a natural state of mind at the deepest level.”
  • “Peace is equanimity, a skill to cultivate.”
  • “Peace is the absence of conflict … It is a state of being whole, neither grasping or reaching for pleasure nor avoiding pain or discomfort. It is the acceptance of and finding the beauty in what is, in the moment. Peace is a momentary state, like the gap between the breaths, the time we just are between the thoughts.”
  • “Peace is when all people on earth are in dialogue with all people on earth. When they try to understand them and try to see the world through their eyes without judging or rejecting them.”(1)

Und so weiter.

Im Keller des eigenen Wohnhauses sitzend, darauf hoffend, nicht Opfer eines Raketentreffers, einer Vergewaltigung oder anderen Kriegsverbrechens zu werden, tönen diese Zitate zynisch. Zu “akzeptieren, was ist”, ein “ruhiges Nervensystem“ zu behalten, sich die “Abwesenheit von Konflikten” herbeizuwünschen, “gelassen” oder gar “still” zu bleiben, kann im Angesicht eines Angreifers, der nach Vernichtung strebt, nicht die richtige Haltung sein. Dies würde buchstäblich bedeuten, sich dem eigenen Tod ohne Widerstand hinzugeben. Solches ohne Würdigung der aktuellen Umstände als eine erstrebenswerte Haltung kultivieren zu wollen, ist hochgradig naiv, ebenso wie von solchen Haltungen geprägte Begegnungen zwischen beiden Seiten eines aktuellen Krieges befördern zu wollen. Oder, um die im Westen bekannteste ukrainische Autorin zu Wort kommen zu lassen:

„Angesichts des bekannten amerikanischen Politikwissenschaftlers John
Mearsheimer – der am Tag des Massakers von Butscha in The Economist den Artikel veröffentlichte ‚Why the West is principally responsible for the Ukrainian crisis´, der in seiner Naivität atemberaubend ist – versprach ich mir, sogar leicht widerwillig, wenn die russische Armee zu ihm nach Chicago kommt und ein Trupp Soldaten in Zugstärke ihn auf unnatürliche Weise höchst persönlich vergewaltigt, dann werde ich, falls ich noch lebe, unbedingt etwas über die ‚Krise in Chicago´ schreiben und wie man sie hätte vermeiden können, wäre der Herr Professor nur ruhig sitzen geblieben.“ (SABUSCHKO 2022, S. 101)

Gleichzeitig gilt: Motive wie: Beiträge zum Frieden zu leisten, oder die Bystander- Rolle (2) vermeiden zu wollen, sind natürlich grundsätzlich ethisch unfragwürdig. Und ebenso natürlich ist es die Rolle der Verbände, Begegnungsräume für Individuen der Täter-, der Opfer- und der Bystander- Seite zu ermöglichen. Dies jedoch ohne klare eigene Positionierung zu wollen, und es beginnen zu wollen, während das Sterben noch nicht beendet wurde, dem liegt ein problematisches Verständnis vom Umgang mit Tätern und Opfern während akuter Gewaltverbrechen und eine Verschiebung der durch Nichtstun auf sich geladenen Schuld zu einer psychotherapeutischen Omnipotenzphantasie zu Grunde.

In Kriegszeiten wohnt jeder Begegnung der Parteien erhebliches Risiko inne, vor allem wenn diese nicht durch eindeutiges Benennen des Aggressors sowie des Geschehens als „Krieg“ gegründet ist. (3) Geschieht dies nicht, beginnen die Täter- wie die Opfer- Seite bald, Solidarisierungen der Bystander einzufordern, wobei sie nicht selten genauso überschießend-aggressiv und ultimativ agieren wie gegen den eigentlichen Feind. Auf diese Weise unter Druck gesetzt, versagen die Bystander bald ihre Unterstützung, beweisen damit die Richtigkeit der selbsterfüllenden Prophezeiung der Opferseite und tragen ungewollt zu weiteren Verhärtungen bei.

Hoffnungen

Dieser Text ist geschrieben in der Hoffnung, nicht nur auf die FEPTO, sondern auch auf Debatten innerhalb der das Psychodrama überschreitenden IAGP und auf andere psychotherapeutische Verbände einzuwirken.

  • Er richtet sich erstens an die ukrainischen Kolleg:innen im Sinne eines Signals, dass sie außerhalb ihres Landes, von Nicht- Ukrainer:innen, gehört und verstanden werden. Ein Signal des Inhalts, dass sie den Schutz wirklicher Solidarität empfinden können und zumindest während des noch laufenden Krieges nicht mit der einer Täter- Opfer- Umkehr entsprechenden Erwartung konfrontiert werden, Verständnis
    für ihre russischen Kolleg:innen zu zeigen.
  • Er ist zweitens eine Adresse an die russischen (und belarussischen) Kolleg:innen, die natürlich, soweit sie nicht mit der Politik ihres Landes übereinstimmen, dringend geschützte Räume benötigen. Sie sind zu Recht entsetzt und überwältigt von dem Ausmaß, in dem sie (im Sinne der kollektiven Verantwortung) die Machtentfaltung des verbrecherischen und menschenfeindlichen Systems an der Spitze ihrer Gesellschaft durch Nichthandeln mitverantworten müssen. Dies kann – vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Deutschen und Jüd:innen nach dem zweiten Weltkrieg (4) – für sehr lange Zeit nicht mehr von ihnen genommen werden. Sie müssen sich über die daraus herrührende Angst, die Verzweiflung, die Trauer, die Scham und über ihre Schuldgefühle austauschen können. Sie müssen ihren eigenen Weg finden, damit zu leben und können dabei ebenso wenig Verzeihen wie Hilfe von ihren ukrainischen Kolleg:innen erwarten, nicht jetzt und nicht später. Sogar jene Psychotherapeut:innen und Gruppenleiter:innen, die die derzeitige russische Politik und den Krieg für gut und/oder notwendig halten, müssen die Aussicht haben, irgendwann wieder ihren Platz in der professionellen Sphäre einzunehmen, und zwar allein deshalb, weil sie menschliche Individuen sind. Sie werden allerdings einräumen müssen: aufgrund ihrer Profession, die Seelen der Menschen heilen zu wollen, hätten sie einen Krieg niemals befürworten oder beschweigen dürfen. Das ist ein Widerspruch in sich.
  • Und drittens appelliert dieser Text an alle psychodramatischen Kolleg: innen und jene aller anderen Modalitäten, die sich als Ermöglicher:innen von Dialog und Begegnung verstehen. Natürlich: Sie als außerhalb des Krieges Stehende brauchen ebenfalls Räume, um sich zu verbinden, um die Verzweiflung zu besiegen, um überhaupt zu spüren, dass sie einen Beitrag leisten und Kontakt als Mittel der Arbeit  für Frieden für die Zeit nach dem Krieg schützen und nützen können. Aber sie, insbesondere ihre Verbände IAGP und FEPTO, müssen diese anders ausgestalten, als sie es aktuell tun.

Als deutschem Sozialpädagogen und Supervisor, im Psychodramainstitut für Europa zum Psychodramaleiter ausgebildet, sind dem Autor die meisten der schuldrelativierenden, einen Schlusspunkt unter die Nazi- Geschichte fordernden Verdrängungs-, Bagatellisierungs- und Verleugnungsstrategien vertraut. Mit dieser Nationalitätserfahrung im Hintergrund wird es im aktuellen Krieg zur Pflicht, die Stimme für die Ukraine zu erheben, damit sich nicht jene „Unfähigkeit, zu trauern“ (MITSCHERLICH 1967), jener Mangel an Mitgefühl und Solidarität, ausbreitet, welcher die deutsche Nation nach dem zweiten Weltkrieg so lange gekennzeichnet und ihre Zivilisierung behindert hat.

Zur Struktur

  • Einen ersten Zugriff zur Erklärung der gegenwärtigen Paradoxien bietet der Versuch, die Herkunft des überbordenden russischen Hasses auf alles Ukrainische historischethisch zu erklären, inklusive eines Exkurses zur Verwendung der ukrainischen und der russischen Sprache in internationalen Treffen. Dazu: Natürlich würde die Kenntnisnahme der aktuellen Nachrichtenlage ausreichen, um über das Ausmaß des offensichtlichen Hasses in Fassungslosigkeit zu geraten. Der Blick in die Historie wird jedoch durch den in rein therapeutischen Umfeldern stetig wiederholten Verweis auf die Wichtigkeit des “Hier und Jetzt” verstellt, daher sei er hier einmal ausgeleuchtet.
  • Zweitens bergen die bereits angeklungenen Positionen des Traumadreiecks (EICHEL 2014) in sich weitere Einsichtsmöglichkeiten für den Prozess des peace building und der Anerkennung der Schuld, insbesondere mit Blick auf Setzungen wie die Wahl der Zeit und der Inhalte. Im Blick bleiben muss dabei immer, wem ein Treffen wozu dienen sollen – Zielgruppe und Zweck. Geht es wirklich darum, Menschen in der akuten Gefahr durch den Krieg zu unterstützen, oder geht es eher um die „Opfer“ in zweiter und dritter Linie, die von außen zusehen, schockiert sind und mit allen möglichen Gefühlen und Aktualisierungen eigener Geschichten umgehen müssen? Moralische Abwägungen sind durchzuführen.
  • Den Text drittens abschließen werden einige kritische Botschaften an FEPTO und IAGP.

1. Woher kommt der unfassbare russische Hass auf die Ukraine?

Ein Blick in die Geschichte

Minderwertigkeit und Schuld

Einerseits gründet der Hass der Mehrheit des russischen Volkes, besonders aber der herrschenden Elite, auf tiefsitzenden, jahrhundertealten russischen Minderwertigkeitsgefühlen.

Andererseits resultiert er aus ebenfalls historischen, wenn auch eher auf die jüngere Geschichte zurückgehenden, unbewussten Schuldgefühlen.

Beide müssen unbedingt abgewehrt werden. Dies führt dazu, dass das russische Selbstbild immer weiter überhöht werden musste, bis es in neue Gewalt umschlug. Daraus resultiert neue, aktuellere Schuld, zusätzlich verstärkt durch die ebenfalls nicht eingestandene Furcht vor Vergeltung, die wieder durch (scheinbar) rechtfertigende Selbsterhöhung abgewehrt werden muss. Damit schließt sich ein Teufelskreis, aus dem extreme Gewalt, Krieg und menschenverachtende Besatzungspraxis hervorgehen.

Die Minderwertigkeitsgefühle resultieren aus der Befürchtung, dass sich womöglich jene Perspektive durchsetzen könnte, nach der die Ukraine als ältere Vorläuferin des heutigen Russlands die eigentliche Quelle der heutigen russischen Nation ist. (5) Die Abwehr dieser Minderwertigkeit wäre eine ähnlich verheerende Gewaltquelle wie die Herkunft des christlichen Glaubens aus der jüdischen Glaubenstradition:

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“

(Brief des Paulus an die Römer. Röm 11,18)

Paulus vergleicht hier den jüdischen Glauben mit einem alten Ölbaum, das neue Christentum dagegen mit einem lediglich nachträglich darin eingepfropften Trieb. Es ist eine der dunkelsten, erst im zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) unterbrochene Tradition des Christentums, die untrennbare Verbindung mit seiner Wurzel immer wieder zu vergessen und zu bekämpfen (6). Durch die Geschichte und Mythologie aller Zeiten zeigt sich dieses Motiv in vielerlei Formen: Ein (noch oder wieder) schwächeres Neues verleugnet seine Wurzeln und trachtet danach, sie auszurotten, um sich selbst als kraftvoll erleben zu können.

Die Stärke der kollektiven (verdrängten!) Schuldgefühle der russische Nation andererseits erklärt sich aus dem Ausmaß des Leides, welches der ukrainischen Bevölkerung durch das Imperium der russischen Zar: innen, sowie im 20. Jahrhundert durch die UdSSR (und seit dem Winter 2013 durch deren Rechtsnachfolgerin) zugefügt wurde. Mit Blick auf diese Geschichte leuchtet nicht nur die Stärke des ukrainischen Bedürfnisses nach einem Ende des Leides ein, sondern auch, wie in der Täternation der Wunsch, sich nicht als Schuldige mit dieser Geschichte auseinandersetzen zu müssen, in neue Vernichtungsphantasien umschlug.

Noch einmal: Mit diesem geschichtlichen Blick sollen keineswegs aktuelle wirtschaftliche Gründe für den Krieg (die Bodenschätze, der Agrarsektor, die aufstrebende digital nation) oder solche des allgemeinen Machterhalts vernachlässigt oder bagatellisiert werden. So zeigt sich beispielsweise am Blick auf die sich radikalisierende Unabhängigkeitsbewegung der Baschkiren, wie wichtig es für den Kreml und seine Unterstützer:innen ist, die Unabhängigkeit der Ukraine zu unterdrücken. Gelingt ihr Freiheitskampf, droht nicht nur der Zerfall des aktuellen russischen Staates, sondern ähnlich dem Ende des “heiligen römischen Reichs deutscher Nationen” der des so bemüht wiederbelebten russischen Nationalnarrativs, gemäß dem Russland etwas heiliges und gottgegebenes ist, das weder zerstört werden noch schuldig sein kann.

Auslöser von Schuld- und Schamgefühlen ist sicher auch, wie tief die wenigen kritischen russischen Bürger:innen den Putin’schen Umbau ihres Staates von einer im Entstehen befindlichen Demokratie hin zur heutigen Diktatur verschliefen, ein „für jede machtbewusste Exekutive […] paradiesischer Zustand“ (Enzensberger 2011, S. 53). Und wie wenig mutig sie im Vergleich zu ihren weißrussischen und ukrainischen Nachbar:innen agierten und derzeit agieren.

Minderwertigkeit und Größenwahn

Es ist allgemein bekannt, dass Minderwertigkeitsgefühle ins Gegenteil umschlagen können: in Selbstüberschätzung, Überheblichkeit und Größenwahn, in Arroganz, Hochnäsigkeit und Selbstgefälligkeit. Der Größenwahn entsteht im Sinne einer kompensatorischen Verkehrung ins Gegenteil aus der Not, das quälende Minderwertigkeitserleben (oder besser: die Spannung zwischen dem Selbst-Ideal und dem real erlebten Ich) zu reduzieren. Chronische Minderwertigkeitsgefühle rufen vielfältige Verschleierungs- und Kompensationsreaktionen hervor und haben dadurch massive Auswirkungen auf Leben und Persönlichkeit. Als einzig wirksame Abhilfe empfahl der Schweizer Philosoph Häberlin: „Verhütung und Heilung muss auf die Wurzel zielen, jenen faulen Kompromiss, […] mit allen ihn begünstigenden Suggestionen, falschen Idealen, Selbsttäuschungen. In der Regel wird es dazu fremder Hilfe bedürfen […], dass der Mensch wieder den Mut und den Willen aufbringen lernt zum sittlichen Kampf, und zwar gerade an der Stelle, an welcher er […] bisher versagt hat. Zur Heilung ist es nicht nötig, dass er in Zukunft nicht mehr unterliegt. […] Die Überwindung der Resignation ist das Wesentliche.“ (Häberlin 1947, S. 60-62)

Zum Umschlag der individuellen Reaktionsbildung auf Gruppen und Gesellschaften definiert der Schweizer Psychotherapeut Itten:„ Größenwahn ist die Überschätzung des Ichs und der Versuch, andere Menschen von der eigenen fantasierten Grandiosität zuüberzeugen“ (Itten 2016, S. 179). Das kann so weit führen, dass Betroffene andere Menschen in ihrem Umfeld mit ihrem Wahn gänzlich „anstecken“. Zum Beispiel bei Sekten, Propheten oder religiösen Anführern ist das häufig der Fall – hier tritt Größenwahn häufig bei den Anführerinnen oder Anführern auf. Gewaltbereite Gruppierungen vertreten gewöhnlich eindeutige Wertsysteme, aus denen ihre Überlegenheit über andere Gruppen hervorgeht.
Wie der Soziologe Chirot von der Universität von Washington in Seattle in seinem Buch „Modern Tyrants“ erläutert, führen häufig stolze Nationen Krieg, weil sie sich nicht gebührend respektvoll behandelt fühlen und ihr Handeln einer unzureichenden Kontrolle unterliegt (Chirot 1994, S. 34).

Es geht Gefahr aus von jenen, die sich für etwas Besseres halten als ihre Mitmenschen. Auch ohne dass sie angegriffen werden, ohne reale Bloßstellung der Leere ihrer Darstellung fühlen sie sich bedroht. Daraufhin verstricken sich immer mehr in die Idee, sie müssten sich wehren und merken am Ende gar nicht mehr, dass sie es sind, die angreifen. Ist der Kampf einmal begonnen, wird jede Aktion der Gegenseite, die sich zur Gegenwehr gezwungen sieht, im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung zum Beweis der Notwendigkeit des Kampfes. Das Unvermögen, Andere – hier die Ukrainer:innen – als Gleiche anzusehen, ist der eigentliche Grund hinter dem aktuellen Zivilisationsbruch der russischen Gesellschaft.

Besonders in einer Welt, die in so rasantem, tiefgreifendem Wechsel ist; in der nichts, nicht einmal die aus Reichtum an Bodenschätzen folgende Superiorität mehr sicher ist (7), und in der demzufolge die einzige Sicherheit nur aus dem Inneren, u.a. eben aus den Wurzeln des überhöhten nationalen Selbstbildes erstehen kann, fühlen sich jene bedroht, deren Ressourcen, Ansehen, reale Macht und ideologische Konsistenz schwinden.

Die Ukrainer: innen setzen neuerdings diesem russischen Größenwahn, der in den Albtraum des aktuellen Angriffskrieges geführt hat, die aus jahrhundertelanger Unterlegenheit, Ausbeutung, Unterdrückung und massenhafter Ermordung erwachsene Kraft entgegen, die Eleanor Roosevelt in folgenden Satz gefasst hat: „No one can make you feel inferior without your consent“ (Roosevelt 1937, S. 183). Aus ihrer Leidensgeschichte wächst ihnen jene die ganze Welt überraschende Kraft ihres Abwehrkampfes zu. Neu ist ebenfalls, dass sie dabei von der Mehrheit der Staaten ziemlich einhellig unterstützt werden – was diesen Krieg zu einer neuen Blockkonfrontation geraten ließ, die erstmals seit dem Ende des WW2 wieder die ultimative (nukleare) Frage nach dem Bestehen der Menschheit aufkommen lässt.

Die Wurzeln der Ukraine und Russlands als Vorgeschichte dieses Krieges

Es sei vorangestellt: Ein kurzer Beitrag zur mehrere Jahrhunderte, wenn nicht ein gutes Jahrtausend umfassenden Vorgeschichte des aktuellen Krieges kann, noch dazu aus Sicht eines westeuropäisch sozialisierten Autors, keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erfüllen. Lediglich einige Einblicke sollen gewagt werden, um die erschreckende zerstörerische Kraft und die Risiken dieses Krieges verständlich zu machen. Dies ist erheblich vor dem Hintergrund des Moreno’schen Befundes zur Potenz von Differenzen zwischen der offenliegenden Gesellschaftsstruktur und der ihr zugrundeliegenden soziometrischen Matrix: „The greater the contrast between official society and the sociometric matrix, the more intensive is the social conflict and tension between them. Socialconflict and tension increases in direct proportion to the sociodynamic difference between official society and the sociometric matrix.“ (MORENO 1981, S.177)

Ukraine und Russland blicken auf eine mehr als tausendjährige gemeinsame Geschichte zurück, etwa seit dem Aufstieg von Kyiv (8) zu einem bedeutenden Handelszentrum am Ausgang des 9. Jahrhunderts nach Christus. Nachdem um 1000 n.C. der Großfürst Wladimir I. den Übertritt der bis dahin heidnischen Rus zum orthodoxen Christentum byzantinischer Prägung durch eine Massentaufe der Bevölkerung im Dnepr erzwang, wurde die Stadt unter seinem Sohn stark befestigt und ausgebaut. Die allererste ostslawische Bibliothek wurde gegründet. Im 11. und 12. Jahrhundert erreichte das Wachstum von Kyiv als kulturelles und wirtschaftliches Zentrum der Kiewer Rus einen ersten Höhepunkt seiner Entwicklung. Es wurde zu einer der wichtigsten und größten Städte Europas, das „altrussische Reich“ zum gemeinsamen Ausgangspunkt der Geschichte des heutigen Russlands, der Ukraine und Weißrusslands. Bevor die Ukraine in der Mitte des 17.
Jahrhunderts dann in das seit etwa 1250 vor allem um Nowgorod herum erstarkte russische Imperium eingegliedert wurde, gehörte sie während gut drei Jahrhunderten zum Königreich Polen-Litauen. Mitteleuropäische geistige Strömungen wie Humanismus, Renaissance, Reformation, Gegenreformation und Barock sowie Institutionen wie das Stadtrecht fanden Eingang in die Ukraine. Nachdem sich die ukrainischen Kosaken von der Herrschaft Polens befreit und einen unabhängigen Herrschaftsverband, das Hetmanat, begründen wollten, unterstellten sie sich 1654 Schutz und Frieden suchend den russischen Zar:innen.

Erwähnenswert für den hiesigen Zusammenhang ist, dass diese „Saporoger“ Kosaken diesen Anschluss als Aushandlungsergebnis unter Gleichen betrachteten, die Zarenfamilie es jedoch ganz anders interpretierte, nämlich als Unterwerfung. Es mangelte im russischen Herrscher:innenhaus schon damals schlicht an der Fähigkeit, überhaupt eine andere Macht als gleichberechtigt anzusehen, eine starke Traditionslinie kolonialer Ignoranz.
Dementsprechend wurde das Hetmanat bald aufgelöst und die meisten ukrainischen Gebiete fielen an Russland. In derselben Zeit wurde die heutige Ost- und Südukraine (mit der Krim) von der ukrainischen und russischen Landbevölkerung besiedelt und kam direkt unter russische Herrschaft.

Im Imperium der russischen Zar:innen wurde dem Baltikum, Finnland und ursprünglich auch Polen politische und kulturelle Autonomie garantiert. Die Ukraine dagegen wurde direkt in die russische Verwaltung eingegliedert, der ukrainische Adel „russifiziert“ und die ukrainische Sprache zu einer „Bauernsprache“ abgewertet. Die Ukrainer:innen wurden nicht einmal als eigenständiges Volk anerkannt, sondern nur als Bestandteil einer Nation, die sich aus „Grossruss:innen“ und sog. „Kleinruss:innen“ (gemeint waren damit: Ukrainer:innen und Weissruss:innen) zusammensetzte. Als sich in der Mitte des 19.
Jahrhunderts dagegen eine neue ukrainische Nationalbewegung regte, die sog. erste Nationalrenaissance, wurde dies scharf unterdrückt, da es die Einheit dieser «allrussischen Nation» gefährdete. Der Druck ukrainischsprachiger Schriften, ukrainische Schulen und sogar der Gebrauch des Namens Ukraine wurden verboten. Dies ist die imperiale, zaristische Wurzel des seitens des aktuellen russischen Präsidenten wiederbelebten Narrativs, die Ukrainer:innen seien eigentlich Russ:innen.

Als nach der russischen Revolution das Zarenreich zerfiel, erklärte sich zunächst auch die Ukraine für unabhängig, wurde jedoch bald von der Roten Armee besetzt. In diese Zeit fiel einerseits die Anerkennung der Ukraine als Nation bis hin zu ihrer Gründung als „Ukrainische Sowjetrepublik“ mit der andererseits brutal unterdrückten „zweiten ukrainischen Nationalrenaissance“. Zu ihr ist der Literat Oleksandr Oles (1878–1944) zu zählen, der 1931 das Gedicht „Europa schwieg“ verfasste. Es wird hier aufgenommen, weil es Aufschluss über den immensen Verdruss gibt, mit dem die heutigen Ukrainer:innen die seit fast einem Jahrhundert bestehende Zögerlichkeit des Westens sehen, sich solidarisch an ihrer Seite zu positionieren (Prosto-Virshi Blog 2015, Übersetzer:in unbekannt).

Europe was silent.
When Ukraine fought for its life,
fought against tortures violent,
and waited, hoped – they’ll sympathize,
Europe was silent.
When Ukraine in blood and tears,
was dying but alive yet,
a friendly help still hoped to see,
Europe was silent.
When Ukraine worked as a slave,
toiled in a yoke of iron.
And voiceless rocks could not that bear,
Europe was silent.
When Ukraine that harvest reaped
but was in starving dying,
and lost all words – no food, no seed,
Europe was silent.
When Ukraine became vast grave,
an empty waste turned my land.
And even evil ones would pray,
Europe was silent.

Ab den 1930er Jahren wurde die Ukraine zur „kleinen Schwester“ degradiert, vom „großen Bruder“, dem Russland der Bolschewiki herabgesetzt, dominiert und ausgebeutet sowie erneut einer „Russifizierung“ unterzogen. Als dann unter Stalin die sowjetische Säuberungen und die Zwangskollektivierung zur massiven Verringerung der landwirtschaftlichen Erträge führten, wurde die Ukraine mit ihren besonders fruchtbaren Böden regelrecht ausgehungert (Holodomor). Die Grenzen wurden geschlossen, so dass Hungerflüchtlinge nicht ausreisen konnten. Bolschewistische Brigaden plünderten systematisch die Ansiedlungen aus, ermordeten hunderttausende Andersdenkende, setzten Verhungernde zum Sterben auf dem ausgeraubten leeren Land aus und ließen den Rest an Typhus sterben. Der britische Historiker Robert Conquest bezifferte die Gesamtopferzahl in den Jahren 1929 bis 1934 auf bis zu 14,5 Millionen Menschen (CONQUEST 1986) inklusive der Opfer der Kollektivierung, der sogenannten „Entkulakisierung“, der Krankheiten und des Geburtenverlustes. In kaum aushaltbarem Detailreichtum, mit vielen Zitaten aus Originalquellen und schrecklichen Bildern ist dies nachzulesen im „Schwarzbuch des Kommunismus“ (COURTOIS et al 1997). Oder direkt im National Museum of the Holodomor- Genocide in Kyiv.

Wenige Jahre danach begann auf dem Boden der Ukraine, was der industrialisierten Ermordung jüdischer Menschen in den Konzentrationslagern der Deutschen vorausging: der „holocaust by bullets“ (Popovicz 2022), dem mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen (9). Gegen die Nazis kämpften laut dem Ukrainischen Institut des Nationalen Gedächtnisses sechs Millionen Ukrainer in der Roten Armee (10). Obwohl sie als Nicht- Russ:innen vermehrt an die Front geschickt wurden, wurde ihr Beitrag zum Sieg über Nazi- Deutschland nicht etwa als Beitrag der Ukraine anerkannt. Von ihnen kehrte nur jeder zweite lebendig zurück. Und noch einmal jeder zweite von denen, die am Leben blieben, hatte anhaltende körperliche Schädigungen.

Während und nach dem 2. Weltkrieg wurden durch das sowjetische Regime außerdem in immer neuen Wellen eine Vielzahl von Volksgruppen willkürlich in die sibirischen Lager deportiert und kamen dort in großer Zahl um, unter ihnen eine nicht bekannte Zahl Krimtartar:innen, Krimarmenier:innen, Bulgar:innen, Griech:innen und Kurd:innen aus der heutigen Ukraine. Auch über die Zeit nach Stalin, in der tatsächlich Tötungsquoten ohne Angesicht der Personen einzuhalten waren, hielten die brutale Unterdrückung und Ermordung von Systemgegner:innen noch bis ins Jahr 198511 an, in dem noch einmal eine Gruppe ukrainischer Literaten und Regimegegner:innen einzig und allein wegen der Verwendung ihrer Sprache, sowie zur Unterdrückung der Kritik nach der Katastrophe von Tschnobyl, in Lagern und psychiatrischen Kliniken verschwand. Opferzahlen sind hierzu nicht bekannt, weil Archive zum Teil bis heute nicht zugänglich oder gleich ganz vernichtet sind. (12)

Fazit 1: Die von brutalem Imperialismus gekennzeichneten historischen Prägungen der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sind bis in die Jetztzeit wirkmächtig. Weite Teile der russischen Gesellschaft haben sich nicht damit abgefunden, dass die Ukraine ein eigenständiger Staat ist. Sie betrachten die Ukrainer:innen weiterhin als Teil einer orthodoxen russischen Nation und die ukrainische Sprache als russischen Dialekt. Dem stimmen laut neuester Demoskopie bis zu 80% der russischen Bevölkerung zu oder widersprechen wenigstens nicht. Es wird dagegen zwar ins Feld geführt, dass die Medien gleichgeschaltet sind, also kaum eine Möglichkeit bestehe, sich aus unabhängigen Quellen zu informieren. Sich aber per VPN- Tunnel Zugang zu freien Medien zu verschaffen (13), das vermag in Russland jede:r, der / die es möchte. Wenn die ukrainische Politik auch seit etwa 2004 („orangene Revolution“) in den westeuropäischen und amerikanischen Medien als weitgehend einiger, den eigenen demokratischen Weg suchender und überwiegend auf die EU ausgerichteter Staat dargestellt wird, so muss konstatiert werden, dass dies in Russland ganz und gar nicht gilt. Im Verhältnis zur Ukraine beansprucht Russland, bei weitem nicht nur die russische Führungsriege, eine hegemoniale Stellung (14). Der ukrainische Anspruch auf nationale Souveränität als solches wird als Kampfansage verstanden.

Fazit 2: Der Volksaufstand Euromaidan – die sog. “Revolution der Würde” – stellt den eindeutigen Wendepunkt des Landes hin zu Europa dar. Er begann, nachdem der immer noch amtierende russische Präsident im Jahr 2013 mit Handelssanktionen, Importsperren und Anti-EU-Propaganda den Druck auf den damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowytsch erhöht hatte und dieser daraufhin das unterschriftsreife Assoziierungsabkommen mit der EU überraschend nicht unterzeichnete. Im Durchschnitt der Jahre 2004 bis 2014 stimmten nur 30 bis 40 % der Bevölkerung einer EU-Integration zu (Pleines 2017, S. 18). Im direkten Nachgang dieses Aufstandes begann Russlands Krieg gegen die Ukraine im Jahre 2014, dem bis zum 24. Februar 2022 insgesamt etwa 14.000 Menschen zum Opfer fielen. Werden die Ukrainer:innen heute gefragt, ob sie die Unabhängigkeit der Ukraine unterstützen oder nicht, so stimmt fast das gesamte Volk zu (86 % auf jeden Fall und 11 % eher). Im Vergleich zum letzten Jahr 2021 ist dieser Indikator von 80 %, und im Vergleich zu 2012 von 62 % auf 97 % gestiegen (Daten: Sociological Group «Rating» Ukraine 2022). Mit anderen Worten: in der Zeit des russischen Krieges gegen die Ukraine seit 2014 (dadurch!) bildete sich ein völlig neues ukrainisches Nationalbewußtsein heraus und eine Entschiedenheit, sich die Kolonialisierung durch den selbsternannten „großen Bruder“ nicht mehr bieten zu lassen.

Der Autor dieses Textes hörte noch im Frühjahr 2021, während eines Besuchs in Kyiv, bei Besichtigung der Gedenkstätte Babyn Jar die Äußerung: „Wir Ukrainer rechnen mindestens einmal im Jahrzehnt mit einer über uns hereinbrechenden Katastrophe, einem Angriff, einer Unterdrückung, Ausbeutung, einer Vernichtungspolitik oder ähnlichem.“ Zu Jahresbeginn 2022 würde dies wohl eher heißen: Wir müssen dies jetzt und für immer beenden. Wir wissen zwar noch nicht, welchen Platz die Ukraine in der Welt letztlich einnehmen kann, aber wir werden bestehen und uns nicht mehr erdrücken und unterjochen lassen.“

Ein Exkurs zur Sprache

(In welcher Sprache kann geredet werden?)

Die russische Sprache in internationalen Zusammenkünften als lingua franca zu verwenden, ist ein Problem. Sie ist eben mehr als eine neutrale gemeinsame Austauschsprache zwischen den Menschen. Sie ist die Sprache des Staates, welcher die Ukraine inkl. ihrer Sprache auslöschen will. Sie ist Täter:innensprache. Dieser Inhalt wird im Sprechakt transportiert, ob die sprechende Person das möchte oder nicht. Wenn miteinander kommuniziert werden soll, kann man deswegen natürlich Menschen einschließen, die sich lediglich im Russischen ausdrücken können oder wollen. Zumindest jedoch muss es den jeweils anwesenden Ukrainer:innen frei stehen, ob sie dann dabei sein und zuhören wollen.

Auch hierzu ein kurzer Blick auf die bis heute wirkende imperiale Geschichte: In der späten Sowjetunion war Russisch Umgangs- und Verkehrssprache, während das Ukrainische nur in den westlichen Gebieten, die erst im Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion annektiert worden waren, unter der bäuerlichen Bevölkerung und bei den wenigen national orientierten Ukrainern erhalten blieb. Der ab 1991 dann unabhängige Staat erklärte das Ukrainische zur Staatssprache, um es aus seiner subalternen Position zu befreien. Dies gelang nur zum Teil. Bis zum 24. Februar 2022 erklärte sich etwa die Hälfte der Bevölkerung in der Ostukraine als russisch muttersprachig, in den Städten der Ost- und Südukraine dominierte das Russische.
Allerdings war Zweisprachigkeit bereits verbreitet. Auf den Straßen Kiews hörte man ebenso viel Russisch wie Ukrainisch. Ksenia Turkova, Moderatorin des Kyiver Radio Vesti im Jahr 2017: „Die Ukraine ist wohl weltweit ein einmaliger bilingualer Sprachraum. Nach Meinungsumfragen wissen die Ukrainer:innen meistens nicht mehr, in welcher Sprache sie gerade einen Film gesehen haben, wenn man sie gleich nach dem Kinobesuch befragt.“ Heute, zu Beginn des Jahres 2023, sind die meisten russischsprachigen Einwohner:innen der Ukraine sind loyale ukrainische Staatsbürger:innen, nur eine verschwindende Minderheit orientiert sich heute noch nach Russland.

Ein Nein oder eine Nichtteilnahme an internationalen Treffen, die nur engl-rus übersetzt werden, müssten bewertungsfrei toleriert werden, ohne dies als Abkehr von einer friedenssuchenden Haltung moralisch zu interpretieren. Und es müßte selbstverständlich immer eine Übersetzung zur Verfügung gestellt werden, die es ermöglicht, auf Ukrainisch teilzunehmen, selbst wenn die russische Sprache gut beherrscht wird. Eine gemischtnationale Gemeinschaft müßte es zur freien Entscheidung jeder Person machen, ob sie das Russische als Tätersprache ablehnen oder nicht.

2. Einige moralische Überlegungen

Wann müssen Täter:innen, Opfer und Bystander:innen worüber miteinander reden können?

Immer wieder wird gefordert, „Opferkonkurrenzen“ seien unbedingt zu vermeiden. Damit ist gemeint, dass russische Teilnehmer:innen der Meetings, die sich ebenfalls als Opfer der mörderischen Politik ihres Staates empfinden, auch Raum und Gehör benötigen und daher eben nicht abgewiesen werden dürften. Solche Räume, so wird gefordert, dürften ihnen keineswegs mit dem Argument verwehrt werden, es seien es ja nun wohl zuallererst die Ukrainer:innen, die die Solidarität der Welt benötigen. Dazu ist zu sagen: Tatsächlich ist es nicht zu viel verlangt, die Treffen vorübergehend zu trennen um eine Retraumatisierung zu vermeiden (bzw. im akuten traumatischen Geschehen: eine erneute Konfrontation mit dem traumatischen Inhalt oder der [kollektiven] Tätergruppe). Die entscheidenden Aspekte dabei sind die der Zeit, des Inhalts und natürlich des Zwecks solcher Treffen:

Solange es noch Kriegshandlungen und Todesopfer gibt, solange die widerrechtliche Aneigung des Donezk, von Luhansk und der Krim nicht beendet ist und solange noch kein faktisches Handeln der Schuldanerkenntnis erfolgt (Reparationszahlungen), solange hat die angegriffene Seite Anspruch auf Schutz.

Während der Krieg noch stattfindet, das Töten noch nicht beendet ist, ist der Anspruch, ausgleichende, verstehende, das Leid beider Seiten anerkennende Dialoge müssten geführt werden, verfehlt. Vielleicht entsteht diese Fehlerwartung, weil gerade die Psychodramatiker:innen und andere Gruppentherapeut: innen so viel dazu beitragen, dass nach Großgruppenkonflikten Dialoge zwischen Angehörigen verschiedener Seiten erfolgreich verlaufen. Und natürlich ist Kommunikation das einzige Mittel, um zu einer Beendigung des Krieges zu kommen. Dies sind aber aus Sicht der Friedensethik zwei Sorten von Dialogen.

Bis die Waffen schweigen, kann nur darüber gesprochen werden, wann sie schweigen und wie sie zum Schweigen zu bringen sind. Neben konkreten Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien kann es natürlich Meetings geben, mit Raum für die Gefühle, für Solidarität, zur Aufhebung der Vereinzelung etc. In diesen jedoch sind die o.g. Rücksichten auf die angegriffene Seite zu nehmen (Vermeidung Retraumatisierung). Sie sind solange hauptsächlich getrennt anzubieten. Bzw. kann nur unter der Bedingung, dass alle Teilnehmenden dies wünschen, jemand von der gegnerischen Seite teilnehmen. Dies kann nicht eine von der Leitung vorgegebene Idee sein, wenn es funktionieren soll. Die Leitung muss sogar davon ausgehen, dass, selbst wenn sie eine solche allseitig offene Gruppe anbietet, diese an der Begegnungsmöglichkeit scheitert oder Teilnehmende deswegen aussteigen.

Wenn die Waffen schweigen, ist in der Regel eine Trauerzeit zu respektieren, damit die Hassgefühle abklingen können und die Konflikte nicht gleich wieder neu ausbrechen,wenn die Parteien wieder in Kontakt kommen. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn eine solche Trauerzeit zwei Generationen dauert.

Während und nach dieser Trauerzeit kann es zwischen den Konfliktparteien zunächst nur darum gehen, einander anzuhören, welches Leid sie erfahren haben, und zwar kommentarfrei. Das ist eine große Anforderung, sehr wichtig und außerordentlich schwierig. Die Opfer müssen bereit sein, sich immer und immer wieder mit ihrem Leid zu konfrontieren. Und die Täter:innen müssen bereit sein, sich immer wieder mit ihrer Schuld auseinanderzusetzen, ohne dass sie sie loswerden oder verkleinern könnten (etwa, indem sie ablenkend auf ihr eigenes Leid fokussieren). Die Täterseite muss verstehen, dass dieses Anhören Teil ihrer Verantwortungsübernahme sein wird, und zwar bis die Opfer sich anderem zuwenden können. Gleiches gilt für die Bystander, die sehen konnten, aber nicht eingriffen.

Der deutsche Psychotraumatologe D. Becker weist daraufhin, dass eine aufgezwungene Versöhnung nach einem psychischen Trauma vergleichbar mit Folter ist, da dem traumatisierten Individuum hierbei erneut externer Wille und fremde Gefühle aufgezwungen werden. Und dass Aussöhnung nichts ist „was jemand von außen orchestrieren kann, denn Versöhnung sollte letztlich eine persönliche Entscheidung der Opfer sein“. Dieses Zitat ist sogar noch zu schwach: Versöhnung kann nur eine persönliche Entscheidung des Opfers sein, ansonsten handelt es sich um etwas anderes. Nämlich: „Die Selbstbestimmung der Opfer ist das zentrale Thema. Niemand darf die Opfer zur Teilnahme zwingen, denn das ist das Wesen ihres traumatischen Prozesses. Der Zwang zu verzeihen und sich zu versöhnen, ist mit Folter vergleichbar, insofern als erneut fremde Gedanken und Gefühle, die nicht die eigenen sind, der psychischen Struktur aufgezwungen werden.“ (Becker 2005, S. 174)

Die ukrainische Nation ist seit Jahrhunderten ein ethnisch, kulturell und religiös höchst diverses und komplexes Volksgebilde. Dies sind gute Voraussetzungen, um die Spannungen mit ihren russischen Nachbar:innen irgendwann wieder erträglich gestalten zu können. Es stellt sich aber eine andere Situation dar als z.B. in den ruandischen Dörfern, wo nach dem Bürgerkrieg, währenddessen Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen, die vorher als Nachbar:innen miteinander lebten, einander massakriert hatten. Sie mussten relativ bald danach einen modus vivendi finden, damit überhaupt ihr Leben weitergehen konnte. Dort wurden viele Dorfgerichte eingesetzt und ritualisierte Versöhnungsprozesse durchgeführt, damit z.B. die Kinder(soldaten) wieder in die Volksgemeinschaft zurückgeführt, versorgt und ausgebildet werden konnten.

Russland und die Ukraine stehen zueinander von nun an in einem anderen Verhältnis. Die Ukrainer:innen müssen nicht notwendig schnell mit ihren russischen Nachbar:innen zu mehr als einem gewaltlosen Nebeneinander finden. Selbst die mannigfaltigen familiären Verbindungen – die an sich eine Chance gewesen wären – sind durch den Krieg zumeist für lange Zeit zerstört. In der Ukraine wird man ganz genau beobachten, welche Anstrengungen die russische Gesellschaft nach dem Krieg unternehmen wird, um sich mit ihrer Schuld auseinanderzusetzen. Die Deutschen sind (in ihrer überwiegenden Mehrheit) diesen Weg gegangen. Sie sind dabei sehr argwöhnisch beobachtet worden und dieser Prozess hat etwa 70 Jahre gedauert (15). Er hat genaue Kenntnis des Unterschiedes zwischen kollektiver und individueller Verantwortung erbracht.
Ob die Russ:innen es schaffen, sich kollektiv als Täternation und als Individuen zu ihrer Verantwortung als Täter:in oder Bystander:in zu bekennen, davon wird es zu einem großen Teil abhängen, zu welcher Form der Nachbarschaft Russland und die Ukraine in der Zukunft kommen werden.

Gelingt dies nicht, so kommt es zu keiner nachhaltigen Aussöhnung und zu keinem wirklichen Frieden. Dies kann man zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien sehen: im Kosovo, in Serbien, Kroatien und Mazedonien.

Aspekte der Schuld und ihrer Aufhebung

Bezüglich der von den russischen Militärs, den illegalen Besatzungstruppen der “DVR” und “LVR” und den mit ihnen assoziierten Söldnern verübten Kriegsverbrechen dürfte die Schuld der konkreten Täter*innen kaum in Frage stehen, da die Dokumentation und Präsentation ihrer Kriegsverbrechen unter Mitwirkung internationaler Organisationen so schnell, umfassend und gründlich durchgeführt wurde und wird, wie vielleicht noch nie in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Anklagen sind in Vorbereitung oder bereits erhoben.

Hinsichtlich politischer, moralischer und kollektiver Schuldanteile wird es weniger einfach sein. Ein orientierender Rückgriff auf die 1946 erschienene Schrift des deutschen Philosophen Karl Jaspers ergibt erhellende Unterscheidungen und Hinweise (JASPERS 1946, S. 31 ff.).

Er wendet sich entschieden gegen eine pauschalierende Kollektivschuldthese, durch die „alles stufenlos auf eine einzige Ebene gezogen wird“ und spricht von vier Schuldbegriffen: kriminelle Schuld, politische Schuld, moralische Schuld und metaphysische Schuld (wobei die letzten beiden aus heutiger Sicht in eins fallen können). Differenzierende Überlegungen sind anzustellen hinsichtlich unterschiedlicher Schuldanteile, Verantwortlichkeiten, Haftungen und Bestrafungen.

Kriminelle Schuld haben in Anwendung der Überlegungen Jaspers all jene, die konkrete Verbrechen gegen das allgemeine Strafrecht, gegen das Kriegsrecht oder gegen die Genfer Konvention (16) begangen haben. In Frage wird stehen, wie schnell diese verjähren.

Politische Schuld haben alle Bürger:innen der russischen Föderation, weil sie die Errichtung dieses Staates bzw. dessen zeitweises Funktionieren ermöglicht bzw. nicht verhindert haben; dies impliziert eine kollektive Haftung für die verursachten Schäden und deren materielle Wiedergutmachung und selbstverständlich auch die Anerkennung der bei Kriegsende festzustellenden Grenzen.

Moralische Schuld ist nur den Einzelnen zuschreibbar, sie ergibt sich aus so komplexen psychischen Phänomenen wie der bequemen Selbsttäuschung über die Ziele und die inhumane Herrschaftspraxis des Putin`schen Machtapparates, der Unbedingtheit einer blinden nationalistischen Anschauung, der „gelegentlichen inneren Angleichung und Abfindung“ mit dem bestehenden System, dem Mitläufertum usw. Um den Begriff der moralischen Schuld nicht zu sehr auszuweiten, spricht Jaspers auch noch von metaphysischer Schuld. Er sieht sie dort gegeben, wo die „Solidarität mit dem Menschen als Menschen“ verloren geht, „wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird“. Die Übertragung dieser Überlegung auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dürfte angesichts der jahrhundertealten russischen Ideologie familiärer Völkerbande angemessen sein. Wenn diese nämlich heute in aktualisierter Form zur Rechtfertigung des Angriffs herangezogen werden, so müssen sie umgekehrt auch als Anklage eines „Bruderkriegs“ gelten.

Jasper warnte bereits davor, dass die Kollektivschuldthese nur allzu leicht den Effekt haben könne, Verbrechen von Einzelpersonen zu bagatellisieren, weil eine Nomenklatur oder alle Angehörigen der Nation oder lediglich die eine Person des Diktators mit Schuld beladen seien. Er forderte in Bezug auf die individuellen Schuldanteile einen ehrlichen Selbstreflexionsprozess (eine innere moralische Umkehr) jedes Menschen, wobei es den eigenen Schuldanteil gewissenhaft zu prüfen und zu bekennen gilt. Ein „Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren“, wie es der am 40. Jahrestag des Sieges der Alliierten über Nazi- Deutschland amtierende deutsche Bundespräsident genannt hat (Bundespräsident.de). Für diese individuelle Aufarbeitung kann keine richterliche Instanz der Welt anerkannt werden, sondern sie muss aus Eigeninitiative und nicht auf Druck von außen erfolgen.

Dies wird, wie das deutsche Volk, auch das russische Volk eines Tages gegenüber den Ukrainer:innen zu leisten haben: erstens Anerkennung der kollektiven wie individuellen Schuld, und zwar auch der aus Passivität entstandenen, und zweitens Bitten um Vergebung. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist reich an Widerständen dagegen gewesen. So waren Verdrängung, Leugnung, Bagatellisierung, gar Beschimpfung jener, die sich entschuldigten, bis zur deutschen Wiedervereinigung an der Tagesordnung. Zum Beispiel wurde Willy Brandt mit seinem Kniefall am Mahnmal des Warschauer Ghettos am 7. 12.1970 zwar international praktisch sofort zur Ikone des bußbereiten Deutschland, im eigenen Land jedoch als gottloser Vaterlandsverräter beschimpft und seine Hinrichtung gefordert. Da war der Krieg gerade 25 Jahre vorbei.

Die Unterscheidung von Anerkennung der Schuld einerseits und Vergebung andererseits beschäftigt die deutsche Gesellschaft bis in die jüngere Vergangenheit. Als der damalige deutsche Bundespräsident von Weizsäcker am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag den Sieg der Allierten über Nazi- Deutschland als „Befreiung“ bezeichnete, sprach er auch über Versöhnung – wohl wissentlich ignorierend, dass diese nur von den Opfern und nur freiwillig gewährt, und nicht verlangt werden kann. Er aber beschrieb das jüdische Motiv des dauerhaften Erinnerns als „Geheimnis der Erlösung“ und verknüpfte die deutsche Selbstverpflichtung zur Erinnerung auf diese Weise gewissermaßen mit der Erwartung an das jüdische Volk, Versöhnung zu gewähren. Und noch dafür wurde er, vor allem von seinen konservativen Parteifreunden, kritisiert: Der bayerische Parteiführer Strauß forderte, die Vergangenheit „in der Versenkung, oder Versunkenheit“ verschwinden zu lassen, denn „die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk!“ (Hofmann 1986). Und eine Gruppe von 200 Abgeordneten des Bundes und der Länder sprachen sich gegen ein Geschichtsbild aus, das nur auf „Befreiung Deutschlands“ durch die alliierten Streitkräfte fixiert sei, denn dies könne „nicht Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewussten Nation sein“. Richtig ist: eine solche Kollektivschuld bleibt für lange Zeit und sie hat den Charakter einer lähmenden Bürde. Das aber lässt sich nicht vermeiden. Stellt sich die Bevölkerung einer solchen Thematik nicht, gärt die Vergangenheit im kollektiven Verdrängten weiter und ersteht in immer neuen Variationen wieder auf. Allein die Forderung nach einem Schlussstrich beendet sie nicht.

Dies alles wird auch in Russland so kommen, zumal das Ende des Krieges gegen die Ukraine ja von heute aus gesehen nicht als vollkommener Zusammenbruch des russischen Staates antizipiert werden muss, sondern – welche Hürden der russischen Innenpolitik dem auch immer entgegenstehen werden – als Beendigung der Kriegshandlungen in eigenstaatlicher Autonomie. Mit anderen Worten: Die kollektive Schuld auch nur anzuerkennen, wird für das post-putin’sche Russland nicht so nahe liegen wie für die BRD nach der vollständigen Kapitulation Nazi- Deutschlands. Und die russischen Individuen werden bei weitem nicht alle aus der Perspektive der Bußfertigkeit auf die Nachkriegs- Ukraine schauen. Im Gegenteil: Es wird jenen Russ:innen, die tatsächlich dagegen waren (und heute sind), viel Mut abverlangen, das geschehene Unrecht und die auf sich geladenen Schuld öffentlich anzuerkennen und auf Versöhnung seitens der Angegriffenen nur hoffen zu können.

Damit sind wir bei der Situation, die sich ergibt, wenn in Online- Meetings Angehörige zweier kriegführender Parteien in einer Haltung, die die gegebene Konfliktschärfe, die historische Tiefe und den Schmerz leugnet und einen simplifizierenden Pazifismus zugrunde legt, aufgefordert werden, to „not let split them, and keep the bond together“ (Zitat siehe weiter oben). Solche eigentlich gut, als Aktivität zum Frieden oder des Solidaritätserlebens, gemeinten Treffen setzen die ukrainischen und die russischen Teilnehmenden, auf deren Teilnahme man hofft, unter Druck.

Können russische Teilnehmende derzeit überhaupt Nein zum Krieg sagen, derweil sie befürchten müssen, dafür verraten und angeklagt zu werden? Können sie wirklich schon ihre Schuld anerkennend benennen ohne sie zu bagatellisieren, während zugleich weiter Bomben fallen, während ihr Land weiter und weiter Wohngebiete bombardiert, wehrlose Zivilist:innen und Kinder Hungers sterben lässt foltert und tötet?

Und sollen sich ukrainische Teilnehmende wirklich anhören, wie ihre russischen Kolleg:innen berichten, wie schlecht es ihnen mit dem Krieg geht? Wie anders als eine Umkehrung der Opferrolle sollen sie dies erleben? Wieso sollten sie angesichts der Geschehnisse, angesichts ihrer Geschichte und angesichts der offiziellen Haltung Russlands dieses ihnen zugedachte Pazifismusverlangen annehmen?

Zum Pazifismusverlangen

Die Frage, ob es gerechte Gewaltanwendung und Kriege gibt, beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Ein radikaler Pazifismus verneint dies grundsätzlich, muss sich allerdings vorwerfen lassen, durch die Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung unter Umständen mitverantwortlich zu werden, wenn Menschen getötet werden (Hinsch 2017, S. 59). Wer angesichts der moralischen Katastrophe schlechthin kategorisch auf Gewalt verzichtet, kann für seine Haltung keine moralische Überlegenheit beanspruchen. Selbst falls sich ein:e radikale:r Pazifist:in im Falle eines ungerechten Angriffs selbst töten zu lassen, dadurch gewissermaßen den Preis für die eigene Haltung zu zahlen bereit wäre, so könnte er bzw. sie dies nur für sich selbst so entscheiden, nicht aber für die Verteidigung anderer verlangen. Denn dann müssten andere den Preis für die eigene moralische Überzeugung opfern. Dies ist die Situation von mit radikalem Pazifismus konfrontierten Ukrainer:innen. Andere (FEPTO, IAGP, Teile der deutschen und internationalen Friedensbewegung, u.a. die deutsche evangelische Kirchenleitung) verlangen – unausgesprochen aber immanent – von ihnen, mit ihrem Leben den Preis für deren moralische Überzeugung zu bezahlen. Dies ist Ausdruck einer Ethik, der es vor allem um die eigene Gesinnung, und nicht um ein moralisch verantwortliches Handeln geht, das die Konsequenzen des eigenes Tuns – oder Unterlassens – vor Augen hat. Ein aufgeklärter Pazifismus hält dem entgegen:

Wenn Menschenrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person tatsächlich höchste ethische Werte sind, dann muss es zumindest prinzipiell auch zulässig sein, sie nötigenfalls mit Waffengewalt zu schützen – selbst dann, wenn dies mit Opfern und hohen Kosten verbunden ist.

Dieselben Argumentationslinien finden sich in katholischen Auseinandersetzungen zum Krieg. So kann Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Fratelli Tutti“ aus dem Jahr 2020 „den Krieg nicht mehr als Lösung betrachten, denn die Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen, der ihm zugeschrieben wurde, überwiegen. Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell gerechten Krieg zu sprechen.“ (Fratelli Tutti 2020, Abschnitt 257) Und weiter: „Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen.“ (Abschnitt 261)

Im direkten Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine bezieht Franziskus die folgende Position: „Wir sind aber vom Weg des Friedens abgekommen. (…) Wir haben die Verpflichtungen, die wir als Gemeinschaft der Nationen eingegangen sind, nicht erfüllt und wir verraten die Träume der Völker vom Frieden und die Hoffnungen der jungen Menschen. (…) Wir haben Gott nicht beachtet, wir haben es vorgezogen, mit unseren Lügen zu leben, Aggressionen zu nähren, Leben zu unterdrücken und Waffen zu horten. (…) Mit Kriegen haben wir den Garten der Erde verwüstet, mit unseren Sünden haben wir das Herz unseres Vaters verletzt, der will, dass wir Brüder und Schwestern sind, (…) Wir haben die Menschlichkeit verloren, wir haben den Frieden verspielt. Wir sind zu aller Gewalt und Zerstörung fähig geworden.“ (Franziskus, 2022)

Den angegriffenen Ukrainer:innen erscheint diese Position des radikalen Pazifismus als reiner Hohn, denn sie spricht ihnen das Recht zur Selbstverteidigung ab. Sollen sie sich, ihr Leben, ihre Freiheit und ihre selbstverantwortete Entfaltung als Gesellschaft, aufgeben und der Kolonialisierung durch Russland anheimgeben? Die polnische Theologin Elzbieta Adamek verneint dies und problematisiert das „Wir“ dieses päpstlichen Gebets.
„Ausgesprochen im Kontext des Krieges, angesichts der Opfer, die nur deswegen leiden müssen oder ermordet werden, weil sie zu einem bestimmten Volk gehören, weil sie an konkreten Orten in der heutigen Zeit leben, erscheint dieses Wir in moraltheologischer Perspektive unpräzise und aus menschlicher Sicht gefühllos. … Welche Schuld tragen die ermordeten ukrainischen Zivilist:innen? Welche Schuld die von russischen Soldaten vergewaltigten Frauen und die vom russischen Angriffskrieg traumatisierten Kinder? Welche Schuld Kranke und Verletzte in den bombardierten Krankenhäusern auf ukrainischem Boden? Welche Schuld diejenigen, die verhungern und verdursten, und diejenigen, für die keine humanitären Korridore geöffnet werden?“ (Adamek, 2022)

Adamek fordert vom Papst genau das, was die ukrainischen Psychodramatiker:innen von der FEPTO, der IAGP und der PAfE gefordert haben: Benennung Russlands als denjenigen Staat, der rechtswidrig versucht, das Gebiet eines anderen Staates zu besetzen, der einen ungerechtfertigten Krieg führt. Und: Die Unterscheidung von russischen und ukrainischen Menschen in der Benennung von Opfern und Tätern. Mit dieser Begründung ist geklärt, dass die Forderung danach, eine „Opferkonkurrenz“ unbedingt zu vermeiden, moralisch unhaltbar ist. Es ist ein Unterschied, ob ein:e schuldgeplagte:r russische:r Kolleg:in einen psychologischen „safe space“ für Begegnung und Kommunikation benötigt oder ein:e ukrainische:r Kolleg:in hinsichtlich der bloßen materiellen Sicherheit im Sinne einer Abwesenheit von Gefahren und Bedrohung des eigenen Lebens und der allermindestens nötigen Bedingungen zur Selbsterhaltung ringt (Behausung, Nahrung, Hygiene, Unversehrtheit, Schutz des Lebens) bedroht ist. In der gegenwärtigen Situation geht es für die Ukrainer:innen nicht zuvorderst um psychologische Mechanismen im Sinne der „Enemies within“ im Sinne von Dan Bar-On oder Yaacov Naor.

In einem echten Krieg steht der psychologische Prozess nicht im Vordergrund. Das anzunehmen wäre ein schreckliches Missverständnis. Krieg, Zerstörung, Tod, ständige Angriffe und der absolute Mangel an Sicherheit sind die brutale, faktische und psychologische Realität, die überall in der Ukraine, 24/7, mit der strategischen Absicht aufrechterhalten wird, die Bevölkerung zu zermürben. Die Ukrainer:innen brauchen momentan alle Energien, um bestehen und als empfindungsfähige Menschen überleben zu können. Es muss akzeptiert werden, wenn sie sich vor Haltungen oder Aktivitäten schützen, die von ihnen erwarten, Begegnungen zu ertragen, die sie nicht haben wollen.

3. Einige Schlüsse und Botschaften an IAGP und FEPTO

Es ist klar, dass die hier formulierte, antineutrale (oder „aufgeklärt pazifistische“) Position die bisherige, in ihrer Nichtbenennung der beiden letztgenannten Forderungen „apolitisch stumme“ Position der FEPTO und der IAGP stark kritisiert. (Die PAfE hat eine Position bezogen, die die Solidarität mit der Ukraine klar benennt. [Kuchinska 2022]) In FEPTO und IAGP scheint es noch eine Mehrheit für die allparteiliche Offenheit zu geben. Für die radikalpazifistische Idee, dass Kontakt und Begegnung immer möglich sein müsse, immer hilfreich und alle Abkehr von dieser Haltung nicht hilfreich im Sinne einer auf Frieden gerichteten Ethik sei. Dementgegen steht angesichts dieses Krieges, dass sich in der westhemisphärisch dominierten Konflikttheorie und –praxis viel zu lange der Illusion hingegeben wurde, bestehende Konflikte durch euphemisierendes Umetikettieren, durch ausdauerndes Wegerklären und durch Ignorieren (Leugnung) lösen oder mindestens mediieren zu können. Die nach dem zweiten Weltkrieg identitätsbildende Idee von Europa als Friedensprojekt der westlichen Hemisphäre ist aber spätestens seit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien überholt (17).

Selbstbefried(ig)ung?

Viel zu oft noch wird gerade in den task forces, den peace-, support- oder stabilisation- groups in wolkige Beschwörungen von Kontakt, Begegnung, Liebe und Spontaneität ausgebrochen, was das Risiko in sich trägt, Konflikte eher noch zu verschärfen und bereits erfahrenem Leid neues hinzuzufügen. In diesen Gruppen entsteht oft ein seltsames, ein gewissermaßen aus der schrecklichen Realität des Krieges ent- oder verrücktes, Klima, in dem sich alle mit liebevollen Worten gegenseitig der besten Absichten versichern, als glaubten sie tatsächlich, dadurch würde sich in diesem Krieg irgendetwas verändern. Als glaubten sie tatsächlich, dass es den Krieg beeinflussen würde, wenn die FEPTO oder die IAGP gegenüber Russland keine klare Position bezieht. Solche Ideen sind in einem solchen Ausmaß realitätsverzerrt und –verzerrend, dass sie einer Interpretation bedürfen. Sie wurden sogar bereits offen „Selbstbefriedigung“ genannt (18). Auch wenn sich der Autor diese Bezeichnung nicht zu Eigen macht, weil sie von einer zu starken gegenaggressiven Komponente zeugt, so ist doch anzuerkennen, dass sie die Fragwürdigkeit der inneren Gründe für diese alle brutale Realität außer Acht lassende Friedfertigkeit herausstellt.

Die weißen Elefanten im Raum heißen wahrscheinlich Selbst-Exkulpation und Ohnmachtsarrangement. Verweigern solche Runden die Anerkenntnis der Schuld, in die Neutralität und All-Parteilichkeit angesichts von Krieg und Menschenrechtsverletzungen führt, so offenbaren sie wohl zugleich das eigene Arrangement mit dem auf sich geladenen Nichtstun. Wie die Deutschen in den vielen Nachkriegsjahren, die jede Art von Selbsttäuschung betrieben, um sich nur nicht eingestehen zu müssen: Jeder hatte es gewusst, alle zusammen hätten sehr wohl etwas tun können. Sie hatten es aber nicht getan.

Auf diesen Krieg angewandt lautet dieser Satz: Jeder Mensch konnte seit 2014, seit dem verschleierten Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine und seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim wissen, dass dort Unrecht geschieht, welches sich täglich weiter auswächst, wenn nicht Einhalt geboten wird. Und jede*r Mensch konnte wissen, welche Preise Europa und der Rest der Welt zahlen müsste, um dem Einhalt zu gebieten:

  • die Aufgabe der Idee, dass Wirtschaftsbeziehungen automatisch zu Frieden führen (Wandel durch Handel),
  • der Verzicht auf die billige russische Energie, damit auf Komfort und Lebensqualität, die buchstäblich mit dem Leben der Ukrainer*innen bezahlt werden,
  • die Aufgabe der Idee, das Reden über Frieden führe automatisch zu Frieden.

Jede*r konnte es wissen. Kaum jemand wollte es aber wissen, geschweige denn die daraus resultierende Politik von den Parteien im eigenen Land fordern.

Allmacht der Gruppentherapie?

Daraus resultiert eine Schuld, die gerade für die Apologet*innen der Neutralität so schwer zu wiegen scheint, dass sie gar nicht davon sprechen können – sondern stattdessen in immer neuen Gruppen die Neutralität und sich selbst als Friedensbringer*innen darstellen.
Eine Selbstpositionierung, die den Spalt zwischen Selbst-Ideal und gefürchtetem Fremdbild deutlich zeigt. Und zwar umso deutlicher, je friedvoller, je einiger die Versicherung ertönt, damit auf dem richtigen Pfad zu sein, je lauter das Lied der allumspannenden Liebe gesungen wird, die angeblich als stärkste oder gar alleinige Kraft alle Konflikte löst. Wie in einem kollektiven Wiederholungszwang ergibt sich das Bild einer Fachszene, die einer selbsterhöhenden psychotherapeutischen Allmachtsphantasie anheimfällt (eine Identifikation mit dem als übermächtig phantasierten Aggressor?) statt über die Realität zu sprechen.

Frieden = Abwesenheit von Konflikten?

Frieden ist jedoch nicht die Abwesenheit von Konflikten. Erst die wirkliche Anerkennung der schrecklichen Realität in „wahrhafter“ Begegnung, inklusive aller Anklage und Schuld, kann zu „gegenseitiger Akzeptanz, zu Respekt, Anerkennung und Liebe“ führen (NAOR+GOETT 2010). Der Versuch aber, diese Abfolge umzudrehen, die Begegnung quasi in der Art des reframing dadurch zu Friedenswirksamkeit zu führen, dass diese von Anfang an behauptet oder beschworen wird, viktimisiert die Opfer weiter und muss zum Gegenteil führen.

Wahrhafte Begegnung = Verantwortung!

Um demgegenüber wahrhafte Begegnungen zu ermöglichen, müssten die von IAGP, FEPTO oder wem auch immer bereitgestellten Räume den Krieg als Krieg, den Aggressor als Aggressor, die Opferseite als Angegriffene, den zivilisatorischen Rückfall in die Barbarei als solchen unmissverständlich benennen. Erst damit würden sie sich im Sinne Hans Falcks zu ihrer Verantwortung (inklusive ihrer Schuld) bekennen. Dieser, 1923 als deutscher Jude geborene, mit einem der letzten Flüchtlingsschiffe im September 1939 nach Amerika geflohene und 1945 als amerikanischer Soldat zurückgekehrte, in Europa leider zu unbekannt gebliebene Gruppentherapeut, Sozialarbeiter und Autor schrieb im November 1938, noch in der Heimatstadt Hamburg über die individuelle Verantwortung angesichts des Unfassbaren: „In diesen Tagen höre ich einige Leute von der Existenz einer kollektiven Schuld sprechen. Ich denke, dass die folgende Geschichte die Auseinandersetzung darum zufriedenstellend klären wird und sie wird keinen Kommentar brauchen außer der simplen Feststellung von Fakten… In der Innenstadt von Hamburg gibt es einige große Kaufhäuser, die jüdische Eigentümer haben. Früh am Morgen während dieser berühmten Woche wurden alle Fenster dieser Läden zerstört, während die Läden in einer Weise geplündert worden sind, wie es die Stadt bis dahin noch nicht erlebt hatte. Alles wurde gestohlen. Kleider, Mäntel, Essen, Spielzeug, Schreibmaschinen, Schuhe, Hüte, kurz alles, was sie tragen konnten. (…) Sie konnten nicht alles nach Hause schleppen. Deshalb kamen die Biester zurück und zerschnitten die Mäntel mit Rasierklingen und warfen sie in den Fluss. (…) Wenn man dies alles aus einer psychologischen Perspektive sieht, fragt man sich, wie es um die menschliche Moral bestellt ist. Szenen, wie ich sie beschrieben habe, sind in keiner Weise einzigartig. Sie geschahen hunderte und tausende Male überall in Deutschland. (…) Ich habe nie an Generalisierungen geglaubt und werde es auch nie tun. Aber jeder ist seines Bruders Hüter und die Tolerierung solcher Gewaltakte, selbst wenn man nicht aktuell daran teilhat, lädt Schuld auf sich.“ (zit. nach Kunstreich 2022, Seite 35)

Diese Schuld, die des Geschehen-Lassens, läd auch auf sich, wer den Krieg nicht Krieg nennt, wer die Täter und Opfer nicht unterscheidet und damit die Wirklichkeit nicht als Wirklichkeit anerkennt. FEPTO und IAGP müssen ihre Haltung zu diesen moralischen Grundfragen klären, wenn sie als glaubwürdige Friedensakteure in diesem Krieg Verantwortung übernehmen wollen. Sie müssen akzeptieren, dass es während des Krieges Dinge gibt, die nicht gehen.

Konflikttheorie und -lösungspraxis modernisieren!

In einem weitergehenden Sinn ist die Konflikttheorie und -lösungspraxis der letzten Jahrzehnte zu revidieren. Über Jahrzehnte wurde uns (und haben wir!) beigebracht, dass miteinander reden und verhandeln immer besser sei als Opponent:innen klar zu konfrontieren und Grenzen nicht nur zu benennen, sondern sie auch durchzusetzen. Um Verhandlungen unter Gleichrangigen zu ermöglichen, ist es aber nicht immer die bessere Strategie, auszuweichen und zu ertragen. Die Menschheit hatte sich (zu ihrem überwiegenden Teil) seit dem Ende des zweiten Weltkrieges an die optimistische Vorstellung gewöhnt, dass alle auf die Anwendung des “Bösen” verzichten und dass bei bewaffneten Konflikten beide Seiten ein im Kern verstehbares Anliegen haben, über welches verhandelt werden kann (19). Unter diesen (allerdings nie wirklich herbeigeführten) Umständen ist Reden und Verhandeln wirklich besser als Konfrontation: Dann stehen die Chancen gut, dass man am Verhandlungstisch eine Lösung findet, mit der beide leben können, und damit zugleich das Leiden für alle beendet.

Dass aber ein Staat einen anderen überfällt, mit dem einzigen Ziel, den eigenen Machtbereich zu vergrößern, dabei die andere Entität schlicht leugnet, und in ungebremster Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vorgeht – das schafft eine andere Situation. Wie schwer fällt es jetzt zuzugeben, dass unter diesen Umständen wieder gelten muss, was der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel gesagt hat: “Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer, Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.” Und zwar in dem Sinne, dass wir nicht nur Verantwortung für das tragen, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Das erkennen wir Friedenssuchende jetzt am und im Krieg in der Ukraine. Wenn das Gegenüber sich entschieden hat, das Recht des Stärkeren anzuwenden, dann kommt eine akzeptierende Haltung dem Selbstmord bzw. der Akzeptanz des Mordes gleich.

Zwischen Staaten ist der Krieg als Mittel der Politik wieder da. Damit ist es wieder höchst fraglich geworden, ob bedrucktes Papier (Verträge, z.B. das Budapest Memorandum (20)) respektiert wird. Die “Friedensdividende” ist aufgebraucht. Wir müssen daher eine ganz andere Konflikttheorie entwickeln. Ein Ansatz dabei könnte sein, Konflikte viel früher als bisher auf einer materialistischen Ebene konkret zu lösen, statt sie weichzuspülen oder zu verlängern, bis alle Beteiligten so ermüdet sind, dass sie lieber schmerzhafte Kompromisse eingehen, als weiter zu streiten. Und zwar unter Einbezug sogenannter “negativer Gefühle” oder Verhaltensweisen wie Neid, Hass, Ab- oder Entwertung. Damit dies im Großen funktionieren kann, müsste es im Kleinen, in den mikround mesosozialen Beziehungen gelernt und eingeübt werden. Dies stellt die im wesentlichen auf systemisch- konstruktivistischen Vorstellungen fußende Vorstellung in Frage, die Art, wie über eine Sache geredet werde, ändere dieselbe. Mit anderen Worten: solange unsere Konfliktlösungsmuster nicht der neuen Realität angepasst sind, können wir einander zeitweise nicht gänzlich friedlich oder “gewaltfrei” begegnen, bzw. die Art der Begegnung selbst ändert nichts am Krieg.

Die Haltung des Haltens – Containment

Dennoch: Die Geschichte der menschlichen Art auf diesem Planeten stellt sich dar als ein zwar auf viele schreckliche Irrungen und Rückfälle zurückblickender, letztlich aber doch: Kultivierungspfad. Wir Menschen bewegen uns weg von der animistischen, ihre Artgleichen fressenden Bestie hin zum sozialen Wesen, das hoffentlich einmal alle anderen als Gleiche mit gleichen Verwirklichungsrechten behandelt. Vor den Abgrund des atomaren Armageddon gestellt, versuchen wir besser darin zu werden, uns gewaltfrei mit Unterschiedlichkeit und konkurrierenden Ansprüchen zu arrangieren. Angesichts der uns nun zusätzlich drohenden Vernichtung durch die ökologische Katastrophe wohnt uns eine Energie inne, die uns auf diesem Weg nicht aufgeben lässt, selbst wenn der zivilisatorische Rückfall so akut wird wie im Krieg gegen die Ukraine. Eine der sozialen Techniken, die wir benötigen, um solche Zeiten zu überstehen, ist es, einander aus dem Weg zu gehen, zu vermeiden bzw. einzufrieren, bis Kontakt und Begegnung wieder zu erträglichen Optionen werden. Es können ja beide Seiten die benötigten Angebote bekommen. Sie müssen eben unterschiedlich und vorübergehend voneinander getrennt sein und könnten dadurch größere Wirkung entfalten. Die einzige Ausnahme von dieser grundsätzlichen Regel können individuelle Kontakte zu Menschen sein, zu denen man vorab Vertrauen aufgebaut hat, zu denen man also mit hinreichender Sicherheit annehmen kann, dass sie weder den Krieg in welcher Weise auch immer unterstützen noch ihre Verantwortlichkeit bagatellisieren oder leugnen.
Zugegeben: Sich darauf zu beschränken, ist im Sinne beabsichtigter Friedensinitiativen vorerst keine sehr weitreichende Zielstellung für große psychotherapeutische Verbände. Aber ein Containment in einer so katastrophalen Lage – ein Aufnehmen der Projektionen, ohne ein Ausagieren der eigenen Emotionen, die durch diese Projektionen ausgelöst werden – wäre ein ausreichend ehrenvolles Arrangement.

Footnotes:

1 Diese sieben und viele weitere Beiträge in dieser Googlemail- Gruppe wurden von den Autor:innen nicht für eine Veröffentlichung abgegeben, daher werden sie hier ohne Urheberschaft, nur als inhaltliche Positionen, aufgeführt.
2 Definition Bystander laut Cambridge Dictionary: A person who is standing near and watching something that is happening but is not taking part in it.
3 Eine weitere Forderung, die zur „Solidaritätsprüfung“ gestellt wird, ist die nach den Bedingungen unter denen von der Ukraine die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen erwartet wird.
4 … und ohne die Singularität der Shoa damit in Frage zu stellen…
5 Tatsächlich ruft der russische Ultranationalist Dugin in seiner einflussreichen Schrift „Geopolitika“ die Kiever Rus als Quelle der altrussischen Nation und eines „dritten, neo-eurasischen Roms“ auf, bei vollständiger Leugnung der dazwischen vergangenen mehr als 1000 jährigen Geschichte.
6 Und wahrscheinlich eine der ewig und unaufhörlich scheinenden Quellen des Antisemitismus.
7 Der industrielle Wandel hin zu erneuerbaren Energien dürfte einer der Gründe für die Wahl der Gaslieferungen als Waffe sein.
8 Beiname der Stadt Kyiv: „Mutter aller russischen Städte“!
9 Nicht alle waren Jüd:innen, auch Bessaraber:innen sowie Sinti und Roma starben in großer Zahl.
10 Dass es wie in allen anderen Nationen des damaligen Europa auch in der Ukraine auf starkem Antisemitismus beruhende Kollaboration mit den Nazis gab (z.B. KLEVEMANN 2017, S. 190-205, ALTHOETMAR 2019, S.13-27), begründet keinesfalls die aktuelle russische Propaganda von der angeblichen Unterwanderung der heutigen Ukraine durch sog. (oder reale) Faschisten.
11 Machtübernahme Gorbatschow
12 Persönliche mündliche Zeugnisse ukrainischer Bürger:innen gegenüber dem Autor aus den Jahren 2018 bis 2021
13 …oder die eigenen Kinder darum zu bitten…
14 Eine aufschlussreiche Sammlung von kurzgefassten Informationen zur ukrainischen Politik und Geschichte findet sich als „Ukraine in two minutes“ auf youtube:

15 Natürlich gibt es weiterhin übersteigerten Nationalismus, Holocaust- Leugner:innen, alle Formen des Rassismus allenthalben und so weiter. Aber die Mehrheit des deutschen Volkes lehnt das ab, obwohl z.B. die ultranationalistische rechte Partei, die im deutschen Parlament sitzt, weitaus mehr Sitze errungen hat, als ihr Pendant im ukrainischen Parlament.
16 https://www.fluechtlingskonvention.de/vertragsstaaten-der-genfer-fluechtlingskonvention-3274/ ,abgerufen Oct 3, 2022
17 Tatsächlich widersprach dem bereits der griechische Gründungsmythos Europas, in dem Kreta zu ihrem Schutz kriegerisch gegen Angreifer verteidigt werden muss.
18 Vom Autor in der einzigen, dieses Thema offen adressierenden Arbeitsgruppe auf der FEPTO Tagung 2022 offen adressierenden Arbeitsgruppe erlebt – ein Skandal!
19 Der “Harvard Ansatz”, siehe https://www.pon.harvard.edu/category/research_projects/harvardnegotiation-
project/ , abgerufen 20.1.2023
20 https://de.wikipedia.org/wiki/Budapester_Memorandum

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Autor

Jannicke, Manfred *1965, Krankenpfleger und Dipl. Sozialpädagoge. Psychodrama- Trainer (DFP, FEPTO), Supervisor (Zentrum für Folteropfer Berlin).
Tätig als Geschäftsführer eines gemeinnützigen, diakonischen Vereins für Kinderschutz
(spez. Inobhutnahmen) und Jugendhilfe (verschiedene Spezialisierungen, u.a.
Essstörungen, unbegleitete Minderjährige).
Board member Psychodrama Association for Europe e.V. und Berliner Rechtshilfefonds
Jugendhilfe e.V., Gründungsmitglied PASSERELLES in der Nachfolge Traces of Holocaust (Naor / Gött).
E-Mail: psychodrama.berlin@gmx.net